Immer wieder in meinem Leben komme ich an den Punkt, dass ich feststelle (oder mir von anderen Menschen rückgemeldet wird), dass ich offensichtlich in manchen Bereichen sehr extreme Charakterzüge oder Verhaltensweisen besitze. Beispielsweise bin ich außerordentlich gut darin, in Systemen zu denken, was sich unter anderem auch in einer sehr ausgeprägten Emphatiefähigkeit für soziale Systeme wie Institutionen, Familien, Beziehungen bis hin zu ganzen Gesellschaften äußert. Oft, wenn mir jemand sein Leid in solchen (Beziehungs-)Strukturen klagt, finde ich rasch effektive Lösungsmöglichkeiten. Interessanterweise versagt dieselbe Fähigkeit teilweise völlig, sobald ich selbst von einer Situation so betroffen bin, dass ich derjenige sein müsste, der zu handeln hätte. Während ich anderen gegenüber eine sehr emphatische Haltung einnehmen kann und ihre „Schwächen“ so umzudeuten vermag, dass sie sich gestärkt fühlen, kann ich das für mich selbst nur selten. Während ich in guten Phasen durchaus auch stolz auf meine Fähigkeiten sein kann, gelingt mir das in niedergeschlageneren Phasen nur sehr eingeschränkt, was zu oft extremen Selbstverurteilungen führt.
Ein weiteres Beispiel, das mir wiederholt auffiel, ist meine Unfähigkeit, mir momentane emotionale Zustände später auch als Gefühl wieder zu vergegenwärtigen. Wenn ich mit jemandem einen Streit habe, kann ich mich eine Woche später zwar auf logischer Ebene daran erinnern, aber mir fehlt dazu das negative Gefühl, und es fällt mir sehr schwer, die Wut und den Ärger dann weiter aufrechtzuerhalten. Das ist in den meisten Fällen eine sehr angenehme Eigenschaft und wird als Fähigkeit, zu verzeihen, interpretiert, aber in den wenigen Situationen, in denen mir Menschen tatsächlich Schaden zufügen, muss ich aktiv Energie aufwenden, um ihnen nicht ständig wieder alles verziehen zu haben und mich wieder mit ihnen zu treffen, als ob nie etwas Schlimmes passiert wäre. Eine weitere oft problematischere Auswirkung davon (zumindest aus meiner Sicht betrachtet, die meisten meiner Freunde haben sich wohl schon daran gewöhnt) ist es auch, dass es mir dadurch schwer fällt, mich an positive Verbundenheit mit Menschen, die ich gerne habe, zu erinnern. Ich weiß zwar auf logischer Ebene, dass ich eine Familie und Freunde habe, die mich unterstützen, wenn ich sie brauche, und wenn ich sie treffe, fühle ich eine tiefe Verbundenheit mit ihnen. Aber wenn ich dann beispielsweise alleine in meiner Wohnung bin und nicht weiter weiß, fühle ich die Verbundenheit, die so nötig wäre, dann nicht. Ich kann sie mir zwar mit Logik ein Stück weit zurückholen, aber das ist natürlich nicht dasselbe.
Vor einigen Tagen, als mir diese ganzen Prozesse wieder einmal in ihrer ganzen Auswirkungen bewusst geworden sind und ich gemerkt habe, wie sehr ich auch unter ihnen leiden kann, hat mir meine Freundin einige schöne Worte gesagt – sinngemäß ein „genau dafür mag ich dich“. Und hat mir erklärt, was ich ohnehin eigentlich weiß und anderen in meiner Situation gerne als Rat weitergebe, aber für mich selbst nicht leisten kann: alles, was Menschen zu den Menschen macht, die sie sind, kann je nach Situation positiv wie negativ sein. Und sie hat natürlich Recht. In gewisser Weise sind wir Menschen ja alle schon alleine deswegen unvollkommen, weil jede starke Charakterausprägung uns immer sowohl Vor- als auch Nachteile verschafft. Das macht uns ja einzigartig. Und trotzdem gibt es in mir offensichtlich einen Bewertungsprozess, der mich dafür verurteilt, nicht nur in jeder Situation positive Charakter-Eigenschaften zu haben.
Flexibles und starres Verhalten
Ich glaube, um diesen Bewertungsprozess zu verstehen, muss ich zuerst einmal einen anderen Gedanken ausführen – den des flexiblen Charakters oder des flexiblen Verhaltens. Es gibt ja möglicherweise zu einer jeden Situation eine Art von „perfekter Reaktion“, die ein 100%iges Verstehen darstellen würde. Wenn ich jetzt auf einen Impuls von außen, z.B. „Freund weint“ immer mit derselben Reaktion, z.B. „Kopf streicheln“ reagieren würde, so sorgt das zwar für eine gewisse Berechenbarkeit, aber wird ihm nicht immer hilfreich sein. Wenn ich immer vorhersehbar und gleich reagiere, kann jemand, der genau diese Reaktion braucht, in solchen Situationen zu mir kommen. Es gibt ja zum Beispiel Menschen, die versuchen, immer alles optimistisch zu sehen. Das kann in vielen Situationen hilfreich sein, aber manchmal auch dazu führen, dass sich jemand mit einer Problematik nicht verstanden oder alleingelassen fühlt. Und hier kommt dann das ins Spiel, was ich in Ermangelung eines sinnvollen anderen Begriffs „flexibles Verhalten“ nennen würde, nämlich eine (bewusste oder unbewusste) Auswahl aus verschiedenen möglichen Reaktionen basierend auf dem, was man für richtig hält.
Weil dieses flexible Verhalten üblicherweise in den meisten Fällen hilfreicher sein wird als ein starres Verhaltensmuster, ist es mir ein Anliegen, da möglichst viel zu lernen. Offensichtlich existiert aber in meinem Kopf ein Anteil, der da einen absoluten Bewertungsmaßstab anlegt und von mir absolute Flexibilität und perfekte Reaktionen auf Anforderungen meiner Umwelt verlangt, was wohl schwer bis unmöglich zu erreichen ist. Es ist interessant, wie dieser Anteil in mir es immer wieder fertigbringt, mir faktisch unmöglich zu erreichende Ziele als „Mindestanforderung“, um geliebt oder auch nur akzeptiert zu werden, zu verkaufen.
Intuition oder Methodik?
Nun kommen wir langsam auch ein Stück weit zurück zum Thema Pädagogik oder auch zur Therapie und vielen weiteren Disziplinen. Ein Lehrer ist für seinen Schüler nicht sonderlich hilfreich, wenn er ihm völlig unabhängig von der Situation immer sagt, der Schüler solle doch als Hausübung einen Aufsatz von 100 Wörtern schreiben, genauso wenig wie ein Therapeut hilfreich sein wird, der unabhängig von der Situation dem Patienten immer sagt, er solle doch mal weinen, das helfe immer. Der Lehrer wie der Therapeut wird aus einer Fülle an möglichen Verhaltensweisen die auswählen, die er für am geeignetsten hält, in der speziellen Situation und mit dem speziellen Menschen vor ihm hilfreich zu sein.
Weil es irgendwie auch zum Thema passt und gestern in einem Gespräch aufkam: ich glaube, es macht einen ziemlichen Unterschied, ob ich diese Entscheidungen bewusst, d.h. rational nach bestimmten Kriterien treffe, oder intuitiv/unbewusst. Es gibt dabei jedoch wohl sogar zwei Möglichkeiten des Intuitiven. Einerseits gibt es das intuitive Erspüren der Bedürfnisse des Anderen, aber dieses intuitive Erspüren basiert auf den bisherigen Erfahrungen. Sowohl in der Pädagogik wie auch in der Therapie gibt es eine Unzahl an Methoden, die zum Teil als der Intuition überlegen angesehen werden, doch ich glaube, diese Unterscheidung ist unsinnig. Sinnvoller wäre es, die Erfahrungen, die den Methoden zugrunde liegen, in seinen Erfahrungsschatz zu integrieren, um dann mit diesem vergrößerten Erfahrungsschatz wieder intuitiv arbeiten zu können. Dazu kann es manchmal hilfreich sein, Methoden bewusst auszuprobieren und sich an Raster und Konzepte zu halten, weil einzelne Methoden immer auch die Aufmerksamkeit anders bündeln.
Problematisch wird es wohl dann, wenn die Nützung der Methoden zu einer gewissen Starrheit führt. Gestern diskutierten einige Studenten der Theatertherapie beispielsweise darüber, was es bedeute, wenn ein Patient in der Therapie die Hand des Therapeuten berühren will, und ein Konsens schien zu sein, dass dies eine Grenzüberschreitung und Rollenvermischung und damit abzulehnen sei. Dass darin eine gewisse Gefahr zu sehen ist, kann ich nachvollziehen, aber mit dieser Gefahr ist auch ein gewisses positives Potential verbunden. Strikt auf dieser Regel zu beharren, würde demnach eine gewisse Starrheit im Verhalten des Therapeuten nach sich ziehen und ihm damit möglicherweise die Möglichkeit verwehren, seinem Patienten wirklich zu helfen. Dass natürlich hinter dieser „Methode“ oder Grundregel einige sehr wichtige Überlegungen stecken werden, ist mir klar. Aber wirklich hilfreich wird es wohl sein, die Erfahrung, die zu dieser Regel geführt hat, nachzuvollziehen, um dann aus einem größeren Erfahrungsschatz heraus wieder intuitiv arbeiten zu können.
Entwicklung des Charakters
Systemisch betrachtet ist das eigene Verhalten für sich betrachtet ja selten problematisch. Eine Problematik kommt meist erst dann dazu, wenn sich ein Mensch innerhalb eines sozialen Systems befindet, das daran Anstoß nimmt. So kann beispielsweise ein Kind innerhalb seiner Ursprungsfamilie völlig ausgeglichen und harmlos sein, weil es sich in einem System mit anderen Menschen befindet, das sein Verhalten durch ihr Verhalten ausgleicht. Das selbe Kind kann in anderen Settings (etwa im Kindergarten, in der Schule, mit neuen Freunden, …) völlig anecken, weil a) das Umfeld noch keine Verhaltensweisen erlernt hat, mit seinem Verhalten konstruktiv umzugehen und b) es selbst noch eine Verhaltensweisen erlernt hat, mit dem Verhalten der Umwelt konstruktiv umzugehen.
Ein Kind lernt in den meisten Fällen wohl relativ rasch, dass bestimmte Verhaltensweisen in manchem Umfeld erwünschter sind als andere, und wird damit wählen, aus einem Bündel an möglichen Verhaltensweisen dann diejenigen auszuwählen, die für die Situation als „passend“ erscheinen. Ein Stück weit und durchaus positiv betrachtet sind wir damit alle Schauspieler, die immer nur einen Ausschnitt unseres ganzen Charakters zeigen. Je mehr Vertrauen wir in unser Umfeld haben, desto mehr eröffnen wir ihnen dann weitere Charakterzüge. Ich glaube, ein grundsätzlicher Prozess lässt sich dabei herausfiltern: ein Kind wächst in seiner Ursprungsfamilie auf, was eine sehr spezielle Ausprägung des Charakters hervorruft – eben jene, die in dieser Familie Sinn macht („ursprüngliche Ausprägung“). Irgendwann wird es dann (z.B. durch Kindergarten, Schule, Arbeitswelt) eine Art „verallgemeinertes“ Verhaltensmuster erlernen, das der Standard-Modus wird („angepasste Ausprägung“). Mit der Zeit wird das Kind aber auch die Erfahrung machen, dass es verschiedene Aspekte seines Charakters in verschiedenen sozialen Beziehungen und Systemen ausleben und damit je nach Umfeld unterschiedliche Rollen spielen kann („differenzierte Ausprägung“).
Problematisch wird es auch dann, wenn Kinder (oder auch Erwachsene) mit Verhalten konfrontiert werden, das sie in keinem Umfeld selbst nachspüren und ausleben können. Was macht etwa ein neunjähriges Kind, das zufällig auf offener Straße eine Vergewaltigung mitbekommen hat, dem die Begriffe dafür noch völlig fehlen? In irgendeiner Weise wird es Räume suchen, dies zu verarbeiten. Mit Glück findet es verständnisvolle Erwachsene, die es anleiten, diese Verarbeitung in nicht-destruktiver Art zu vollziehen – im Regelfall wird es bei vielen Erwachsenen jedoch auf wenig Verständnis stoßen, eher im Sinne von „das darfst du ja noch gar nicht sehen“ oder „das kommt erst nächstes Jahr laut Lehrplan“ oder wie auch immer. Nur: diese unverarbeiteten Erlebnisse bahnen sich ihren Weg – entweder blockieren sie geistige Energie, schaffen Albträume usw., entladen sich in entsprechenden Aktionen nach außen, etwa indem Situationen „nachgespielt“ werden, oder wandern tief ins Innere, um dann in unregelmäßigen Abständen für Probleme zu sorgen. Dann landen wir rasch bei den sogenannten „Schatten“, den verdrängten Anteilen im Menschen.
Intuition, Methode, Intuition
In dem eingangs erwähnten Gespräch habe ich mich auch wieder daran erinnert, dass ich vor einigen Jahren eine Phase hatte, in der ich mich für alle Menschen interessiert habe, weil ich eines jeden Geschichte interessant fand und für erzählenswert hielt. Es war eine Zeit, in der ich viele Stunden damit verbrachte, mit fremden Menschen zu sprechen und mich an ihrer Vielfalt zu erfreuen. Heute merke ich, dass ich das nur noch selten mit erwachsenen Menschen kann und manchmal – ohne es bewusst zu wollen – auf andere Menschen irgendwie herabsehe. Es ist, als hätte ich meine „Mindeststandards“, ohne es selbst wirklich zu merken, deutlich angehoben, und zwar so weit, dass ich sie selbst oft gar nicht mehr erfüllen kann. Die Sache ist nur die, dass sich Menschen auch ein Stück weit daran anpassen, wie man ihnen entgegentritt. Früher war ich überrascht, wie viele interessante Menschen ich in Fremden gefunden habe, heute bin ich manchmal überrascht, wie langweilig die meisten Menschen aussehen und ihr Leben dahinzuleben scheinen. Und fast glaube ich dann wirklich, dass es auch so ist.
In Wahrheit aber dürfte es sich um eine bequeme Ausrede handeln, die sich mein kreativer Kopf dafür zurechtgelegt hat, keine Menschen mehr ansprechen zu müssen. Gibt ja nichts zu sehen, warum also hinschauen? Ich glaube, ein Stück weit geht es auch um ein recht tiefsitzendes psychologisches Phänomen bei mir: es ist leicht, sich aus einer Position der Stärke heraus anderen zu öffnen. Wenn man sich dann mal nicht so gut, nicht so gehalten fühlt, könnten das ja auch andere sehen, und das geht ja gar nicht. Eine wirkliche Öffnung funktioniert nur in beide Richtungen. Das, was ich vor Jahren gut konnte, war nur Methode, war mehr krampfhaftes Ansprechen fremder Menschen, um mir selbst zu beweisen, dass ich es ja doch kann, dass ich auch in diesem Bereich gut bin, weil man ja überall und immer gut und besser sein muss, um überhaupt geliebt werden zu können. Oder zumindest habe ich das wohl tatsächlich geglaubt, und selbst meine doch sehr ausgeprägte Logik hat mir dagegen nichts genützt.
In gewissem Sinne habe ich vor dieser Phase für mich festgestellt, dass ich vom Grundcharakter her so introvertiert bin, dass es mir im Wege steht, und meine Intuition mir dementsprechend rät, Menschen und tieferen Verbindungen eher aus dem Weg zu gehen. Als mir das mit ungefähr 14, 15 Jahren bewusst geworden war, habe ich versucht, das über die Methode des „Ich spreche jeden an, weil alle sind ja interessant“ zu verändern, und ein Stück weit hat es ja auch geklappt. Nur war das dann mit der Integrierung in eine neue, erfahrenere Intuition irgendwie nicht so erfolgreich, weil meine Intuition mir immer noch in den meisten Fällen rät, Menschen nicht anzusprechen, obwohl es wahrscheinlich nach wie vor viele interessante Gesprächspartner gibt. Manchmal jedoch, vor allem wenn die Sonne scheint und ich mich im Grunde gut und wohl fühle, geht es mittlerweile auch von selbst, und das freut mich noch viel mehr als all das bemühte Ich-muss-das-jetzt-schaffen, dass ich früher an mir hatte. Ein großer Erfolg, vielleicht noch ein größerer, als seinen Charakter zu verändern, ist es ja, seinen bestehenden Charakter zu erweitern – ihn einerseits als solchen akzeptieren zu können, ihm aber weitere Möglichkeiten zur Hand zu geben, auf verschiedenste Situationen zu reagieren – ansonsten besteht ja auch die Gefahr von voneinander relativ unabhängigen „Doppelleben“, wie etwa des betrunkenen Hannes und des nüchternen Hannes, die sehr unterschiedliche Charakterzüge nur in dem jeweiligen Zustand ausleben „dürfen“.
Vielleicht bin ich im Grunde auch einfach ein introvertierterer Mensch, der damit auch andere Qualitäten mitbringt, die extrovertiertere nicht so haben. Ich kann zum Beispiel ziemlich gut zuhören. Es ist oft schwer, die Anteile in mir zu übertönen, die mich dafür manchmal hassen wollen, dass ich bin, wie ich bin. Aber je tiefer ich in meinen Gesprächen zu anderen Menschen komme und je mehr ich ihnen zuhöre, desto mehr erkenne ich, dass ich auch damit nicht alleine bin in dieser Welt. Diese Anteile haben wir wohl alle in uns, nur sind vielleicht nicht alle auch so aufmerksam, sie zu hören und ihr eigenes Verhalten auch als Folge jener Anteile zu reflektieren. In dem Sinne bin ich dann wieder froh, zu sein, wer ich bin, und die Menschen um mich zu haben, die ich um mich habe.
Danke an euch alle.
Niklas