In den letzten Wochen habe ich meinen Traum gelebt: einst eine eigene Schule zu gründen. Die Schule, zu der ich vor einigen Wochen hinzustiess, war kurz nach ihrer Gründung bereits eher vor dem Ende als vor einer glücklichen Zukunft, und ich trat hinzu in einer sehr chaotischen Situation, in der alle Beteiligten heillos überfordert schienen und aufgrund dieser Überforderung auch in ihrer Entscheidungsfindung beeinträchtigt waren. Glücklich über diese Chance, die ich mir seit langem erträumt hatte, warf ich mich in die Arbeit, mit dem Vorsatz, etwas Ruhe und Entspannung in die Situation zu bringen, damit sich alle Beteiligten wieder ein wenig besinnen konnten und entspannte, konstruktive Gespräche wieder möglich sein würden.
Ausbrennen
Die vor mir stehende Aufgabe war schwieriger, als ich erwartet hatte. Menschen, die über Monate unter enormen Stress gelitten hatten, weil sie etwas, was sie aus dem Nichts aufgebaut hatten und fürchteten, dass alles umsonst gewesen sein konnte, setzten naturgemäss nicht allzu viel Vertrauen in jemanden wie mich, einem Dahergelaufenen. Vor allem konnten sie sich naturgemäss in ihrer furchtbedingt eingeschränkten Perspektive nicht so sehr vorurteilslos einer Situation stellen. Meine mir selbst gestellte Aufgabe war es also, zum einen gestaltend in die Situation einzugreifen, um ein Arbeiten zu ermöglichen, mit dem ich zufrieden war, die Freiräume zu schaffen, die dafür nötig waren, gleichzeitig jedoch denjenigen die Furcht vor diesen Freiräumen zu nehmen, die die negativen Konsequenzen totaler Freiheit in traumatischer Weise erlebt hatten.
Es waren zu viele Fronten auf einmal, und da ich nebenbei meine Bachelor-Arbeit endlich fertigstellen wollte, um danach mehr Freiheiten für die Arbeit in der Schule zu haben, folgte daraus, dass es in den letzten Wochen kein Wochenende, eigentlich keinen einzigen Tag gab, an dem ich nicht noch nach Schulschluss stundenlang entweder für die Schule vorbereitete oder an meiner Bachelor-Arbeit schrieb. Ich bin selbst überrascht, dass mein Körper dies durchhielt, weil der normalerweise relativ empfindlich auf übermässigen Stress reagiert. Ich fühlte mich nicht immer wohl, aber nie unwohl genug, um ein Auskurieren zu rechtfertigen, und mit dem Weggang meiner Kollegin hatte ich auch das Gefühl, dass es als einziger Pädagoge schlicht nicht möglich war, sich auf sich selbst zu besinnen und schlicht einmal auszuspannen. Ich hatte schliesslich eine Aufgabe, und eine, der offensichtlich niemand sonst gewachsen war.
So schön das Gefühl war, gebraucht zu werden, und zwar nicht in einer Rolle als Pädagoge mit festgelegten Kompetenzen und Funktionen, sondern als Mensch mit all seinen Facetten, so völlig überfordert fand ich mich auch zeitweise wieder. Das Gefühl, unersetzlich zu sein, stiftet einerseits Sinn, gibt das Gefühl, für etwas da zu sein in dieser Welt, aber wenn eine sinnstiftende Aufgabe so überhandnimmt, wie es bei mir der Fall war, besteht offensichtlich die Gefahr, dass ein Mensch sich weitgehend bis völlig mit einer Aufgabe identifiziert und anderer Lebensbereiche vernachlässigt.
Stützkräfte
Gestern hatte ich grossartige Unterstützung von einer befreundeten Pädagogin, und es war der erste Arbeitstag an dieser Schule und es ist jetzt das erste Wochenende seit Wochen, an dem ich das Gefühl habe, tatsächlich für eine Weile loslassen zu können, weil ich die Last der Aufgabe nicht mehr alleine trage. Wir haben gemeinsam alles organisiert, was ich für Montag brauche, ich hatte die Möglichkeit, mit jemanden zu reflektieren, der mir gut tut und mir hilft, meine Gedanken zu ordnen, und ich konnte gestern endlich, nach Wochen, mich einfach ins Bett legen, entspannen und schlafen.
Als ich aufwachte, war eine Freundin von mir zu Besuch, zu der ich die letzten Tage und Wochen sehr abweisend gewesen war, weil mich ihre kleinen Unzulänglichkeiten, die ich sonst mit einem Lächeln übersehen hatte, plötzlich unglaublich zu nerven begonnen hatten. Nun etwas entspannt, war es mir möglich, mich für mein Verhalten zu entschuldigen und zuzugeben, dass ich mich ganz einfach selbst überfordert hatte. Wir beschlossen, Lebkuchen zu backen, hörten gute, gemütliche Musik dazu, und ich konnte förmlich fühlen, wie meine Anspannung der letzten Wochen einem überwältigenden Gefühl von Dankbarkeit zu weichen begann. Dankbarkeit, dass es auch in den schlimmsten Situationen immer wieder Menschen gibt, die dann für einen da sind, wenn man sie braucht.
Eine Umkehr
Meine Eigenschaft, mich ungehemmt in eine Aufgabe stürzen zu können, die mir gerade sinnvoll erscheint, hat neben all den positiven Aspekten wie dem, dass ich diese Aufgaben dann oft in wirklich toller Art und Weise angehen kann, auch eine Gefahr in sich: es besteht die Gefahr, sich in einer Aufgabe zu verlieren, ganz in ihr aufzugehen und sie nicht mehr als ganzer Mensch sondern nur noch als von einem Menschen gegebene Antwort auf jene Aufgabe zu beantworten. Eine vom Leben gestellte Aufgabe benötigt jedoch in meiner Erfahrung immer einen ganzen Menschen mit all seinen passenden und unpassenden Eigenschaften und Facetten, um sie sinnvoll beantworten zu können. Ein wirklich guter Lehrer ist nie nur Lehrer, sondern immer auch der Mensch dahinter, von dem seine Schüler auch über das Menschliche lernen können.
Ich glaube heute, dass ich, um mich derart ungehemmt in eine Aufgabe stürzen zu können, wie es manchmal eben auch nötig ist, ein festes Netz an Beziehungen brauche, das mich hält, das mir Halt gibt und das mich auffängt, wenn ich in Gefahr gerate, mich zu verlieren. Ein Netz, an das ich mich wenden kann, dessen Menschen aber auch auf mich schauen, wenn ich selbst den Überblick über das, was wichtig ist, zu verlieren drohe, weil die Gefahr durchaus real und furchterregend ist. Dieses Verlieren in einer Aufgabe, das vermutlich der Zeitkrankheit „Burnout“ sehr nahe kommt, ist es, vor der ich mich hüten möchte.
Es sind die kleinen Warnsignale: weniger selbst zu kochen und mehr Fertiggerichte zu sich zu nehmen, mehr Süssigkeiten unkontrolliert in sich hineinzustopfen, mehr Zeit damit zu verbringen, am Computer zu spielen oder sich im Internet abzulenken, andere Aktivitäten, die einem wichtig sind, einzuschränken, das nicht mehr weggehende Gefühl der Erschöpfung – die eine Entwicklung andeuten, der entgegenzuwirken ist. Es ist der Versuch, nie zur Selbstreflexion gelangen zu müssen, weil bei dieser Selbstreflexion auch Gefühle der Überforderung, die nicht zuzulassen sind, zu Tage kommen würden, und es wird erreicht durch Ablenkung: Essen, spielen, sich den Kopf zerbrechen über andere Themen.
Eine Einkehr
Ein Gegenmittel könnte ein Ritual sein, dass ich mir hiermit vornehme: jeden Tag für zumindest fünf Minuten in sich zu gehen und sich zu fragen, wie man sich tatsächlich fühlt, ohne zu werten und damit gewisse Gefühle von vornherein nicht zuzulassen. Die Moslems machen etwas in der Art fünf Mal am Tag, die Buddhisten nennen es Meditation, und ich kenne die positiven Effekte von früher und hoffe, dass ich dieses Ritual wieder mit einer gewissen Regelmässigkeit in mein Leben integrieren kann.
Abschliessend noch einige Worte, die aus diesem Reflektieren entstanden sind: Ich finde in mir ein enormes Kraftpotential, schwierige Situationen durchzustehen und auch andere dabei zu stützen, aber in all dem Stützen von anderen brauche ich hin und wieder auch jemanden, der mich stützt und mich einfach umarmt, damit ich auch weiterhin für andere da sein kann. Es ist schön, dass auch öffentlich zugeben zu können, und es befreit mich ungemein, es hier zu tun. An alle, die mir nahe sind oder mir sein wollen, ich bitte euch: wo es euch möglich ist, helft mir, auf mich selbst zu achten und sagt mir, wenn ihr das Gefühl habt, ich verliere mich wieder einmal.
Ich danke euch allen dafür, dass ihr da seid, weil ihr es seid, für die ich leben kann.
Euer Niklas