In den letzten Wochen dämmerte mir eine Erkenntnis: Ich unterdrücke weite Teile menschlicher Erfahrung, weil ich Angst vor den Konsequenzen habe. Und während der Gedanke noch zu neu ist, um die Folgen abschätzen zu können, bildet sich in den letzten Tagen nun so etwas wie eine Hypothese in meinem Kopf heraus: Ist Gewalt oft nur eine Folge der unterdrückten Anteile menschlicher Existenz in uns?
Ab ins Unbewusste mit euch
Lange Zeit dachte ich, dass es so etwas wie „gute“ Verhaltensweisen und „schlechte“ Verhaltensweisen gibt, die dem Menschen zur Verfügung stehen, und dass ich als Mensch, der gut mit anderen auskommen möchte, dazu einfach die positiven verkörpern und die schlechten kontrollieren lernen müsste. Tatsächlich hat es mich dazu geführt, dass ich nur sehr selten mit meinen Mitmenschen in Konflikt gerate, und wenn doch, fühle ich mich dabei moralisch meistens „im Recht“. Abgesehen davon, dass darin mit Sicherheit eine gewisse Überheblichkeit verborgen ist, stellt sich mir mittlerweile die Frage, wie konstruktiv mein Verhalten im Alltag tatsächlich ist. Immer wieder mache ich die Erfahrung, dass sich Menschen in Konflikten von mir unverstanden fühlen, und meine empfundene moralische Überlegenheit tröstet mich nicht wirklich darüber hinweg, dass ich (wieder einmal) unfähig war, einen anderen Menschen in seinem ganzen Sein zu sehen, zu verstehen, zu akzeptieren und wertzuschätzen.
Ich habe mich jahrelang gefragt, warum ich einerseits ein gutes intuitives Gespür für andere Menschen habe und mich oft sehr gut in sie einfühlen kann, und dann wieder derartige „Aussetzer“ habe, in denen ich das Verhalten anderer Menschen überhaupt nicht mehr nachvollziehen kann. Es ist bisher nur eine – wenn auch interessante – Hypothese, dass mich der Kontakt mit jenen Menschen in Bereiche menschlicher Existenz bringt (oder bringen würde), die ich mir selbst irgendwann verwehrt habe.
Einigkeit und Abgrenzung
Ich glaube, es gibt zwei Arten von Möglichkeiten, eine Verbindung mit einem anderen Menschen, vielleicht allgemein einem anderen Wesen herzustellen: sich zu synchronisieren oder das entsprechende Gegenverhalten zu verkörpern. Ich kann ein Gefühl von Verbindung mit jemandem herstellen, indem ich seine Gefühle oder sein Verhalten spiegle. In der Pädagogik passiert dies oft, wenn sich Pädagogen mit ihren Schülern „verbrüdern“ und sich auf ihre Seite schlagen, nach der Marke „Ja, ich finde diese Regel auch doof“. Oder wir versuchen, einen entsprechenden Gegensatz zu finden, der in Verbindung zu einem größeren Ganzen führen kann – etwa, indem wir dem wir bewusst leiser werden, wenn jemand anfängt, zu schreien (das Bedürfnis nach Gehört-Werden wird durch das Zuhören erfüllt). In dem zweiten Beispiel könnte sich der Pädagoge auch auf die Seite des Schülers schlagen und ebenso mitschreien, um Verständnis auszudrücken. In den meisten Fällen jedoch wird der Schüler (wie auch wir selbst) durch das Herstellen eines größeren Ganzen mehr aus der Situation lernen können.
Wenn wir davon ausgehen, dass Menschen im Regelfall zwischen den Bedürfnissen nach Einigkeit, Verständnis, Harmonie und Abgrenzung, Autonomie, Spannung pendeln, so würde es demnach auf zwei Fähigkeiten ankommen: einerseits, das Bedürfnis des Anderen richtig abzuschätzen (Harmonie oder Autonomie) und dann die entsprechend passenden Handlungen für die jeweilige Situation auszuwählen (bewusst aufeinander bezogene oder bewusst nicht aufeinander bezogene), um gewalttätige Konflikte vielleicht vermeiden zu können. Alle Beteiligten können dann dazu beitragen, die jeweiligen Verhaltensweisen entweder zu synchronisieren oder zu entsynchronisieren. Gewalt entsteht dann vermutlich dort, wo diese Bedürfnisse falsch eingeschätzt oder geringgeschätzt werden, etwa wenn eine Mutter das Bedürfnis des Sohnes nach Autonomie, ausgedrückt in betont unterschiedlichem Verhalten, durch Druck „korrigieren“ oder durch die Anpassung des eigenen Verhaltens mit dem Sohn synchronisieren will und sein Bedürfnis nach Abrenzung und Autonomie dadurch nur noch verstärkt.
Der halbvolle Werkzeugkoffer
Und nun kommt meine eingangs angeführte Feststellung ins Spiel, dass ich – wie ich zunehmend feststelle – einige Aspekte menschlichen Verhaltens in dem Glauben, damit dem Frieden zu dienen, unterdrückt habe. Es kostet mir beispielsweise große Mühe, Wut auszudrücken, und wenn ich es doch einmal tue, fühlt es sich irgendwie seltsam an, als wäre ich in jenem Moment gar nicht ich selbst sondern jemand anderer, der wütend ist, als könnte ich nicht wütend sein.
Eine Freundin versucht mir seit Jahren zu erklären, warum ich ihrer Ansicht nach nicht vernünftig singen kann, und als sie mir vor einigen Wochen beibringen wollte, wie man Salsa tanzt, habe ich wohl zum ersten Mal verstanden, was sie damit eigentlich meint, wenn sie sagt, bei mir klingen die meisten Leider gleich: ich habe gelernt (und ich bin es gewöhnt), manche Emotionen nicht auszuleben, zu blockieren, nicht zuzulassen. Deswegen verbreitet mein Tanzstil auch bei den eigentlich traurigsten Liedern Fröhlichkeit, klingt mein Gesang immer gleich nett. Nicht unschön, wahrscheinlich mit Potential, aber doch… fehlt etwas. Es fehlt der große Spielraum des Menschlichen, fehlt die Erfahrung im Negativen, um das Schöne und Positive umso mehr erstrahlen zu lassen.
Ich glaube, dass es mir nicht nur beim Singen oder Tanzen helfen wird, diese noch unterdrückten Möglichkeiten menschlichen Seins zu erlernen, sondern auch als Pädagoge, wenn ich zum jeweiligen Yang im Verhalten anderer Menschen das entsprechende Yin ausleben kann, ohne immer wieder an meine eigenen inneren Blockaden zu stoßen.
Es ist immer wieder schön, festzustellen, dass der Großteil dessen, was man glaubt zu wissen, oft nur eine Illusion ist, hinter der sich eine noch viel tiefere, noch viel interessantere Wahrheit verstecken könnte, mit der man sich beschäftigen und über die man nachdenken kann…
Niklas