Ein neuer Schnittstellen-Bildungskanon im Dienste der Integration

(Letztes Update von Niklas Baumgärtler am 26.5.2021)

Als gestern bei meiner Sponsion einer der Redner (ich glaube, es war der Landesschulrat) davon sprach, wie wichtig die Funktion der Schule für die Gesellschaft sei, weil schließlich ein jeder Mensch dieser Gesellschaft sie durchlaufe, hat er wohl vergessen zu erwähnen, dass es so etwas wie Migration erwachsener Menschen gibt. Oder Menschen, die die gesetzlich gewährte (wenn auch im Vergleich zu etwa Deutschland unnötig erschwerte) Möglichkeit des Unschoolings bzw. Freilernens nützen und ihr Kind nicht in die Schule geben. Vermutlich wollte er dabei auf die integrierende Funktion der Schule für die Gesellschaft hinweisen, die traditionell dadurch erreicht werden soll, dass alle Menschen ähnlichen Erfahrungen ausgesetzt werden, die sie vereinen. Durch das Durchlaufen eines einheitlichen „Bildungskanons“ soll eine gemeinsame Identifikation mit der Gemeinschaft erreicht werden, oder zumindest war dies – soweit ich das verstehe – eine der Grundsäulen des preußischen Bildungssystems, aus dem ja auch unseres hervorgegangen ist.

Bei all der Diskussion um die Autonomie der Schulen, schülerzentriertem Lernen und Ähnlichem, die auf eine weitgehende Individualisierung des Lernens abzielt, ist dies eine nicht zu unterschätzende Komponente: wie kann eine Integration (oder eine Inklusion) in ein Ganzes erfolgen, wenn ein jeder Mensch potentiell völlig unterschiedliche (Lern-)Erfahrungen durchläuft? Laufen wir da nicht in Gefahr, unsere Kultur in unzählige Unterkulturen zu zersplittern? Möglicherweise ist es diese Angst vor der Des-Integration der Kultur, die uns davor zurückschrecken lässt, Kinder (und sogenannte „Er-wachsene“) Erfahrungen machen zu lassen, die sie von der Masse abheben könnten. Sind Abgänger von freien Schulen oftmals „weltfremd“, oder doch eher nur der Welt, die wir kennen, fremd, weil sie manchmal auf einer utopischen Gesellschaftsordnung basieren oder mit dem Ziel ihrer Herstellung betraut werden?

Vor einigen Jahren hat mir der Direktor einer freien Schule zu all meinen utopischen Bildungsvorstellungen von damals gesagt, ich müsse mir im Klaren sein, dass ich da eventuell unschuldige Kinder opfern würde, die nach der Schule unvorbereitet auf eine Gesellschaft losgelassen werden, die nach anderen, ähnlich paradiesischen Werten funktioniere. Er meinte, es sei unumgänglich, zumindest gewisse Funktionsweisen der heutigen Gesellschaft zu verstehen, um in ihr überleben zu können und führte das Beispiel einer befreundeten Fotografin an, die eine Waldorf-Schule besucht habe, dort zu einer brillanten Fotografin gereift war und nun als Erwachsene laufend über den Tisch gezogen werde, weil sie sich völlig unter ihrem Wert verkaufe. In ihrer Begeisterung für die Fotografie habe die einstige Schülerin wirtschaftliche Zusammenhänge völlig unterbewertet und würde jetzt darunter leiden.

Die Aussagen dieses Direktors, gemeinsam mit vielen Erfahrungen in der Nachhilfe und in der Schule, geben mir heute Antworten auf viele Fragen, die das Verhältnis zwischen Individualisierung des Lernens und der integrierenden Funktion eines gemeinsamen Wissens aufwerfen. In der objektorientierten Programmierung gibt es neben den Klassen, die für sich selbst weitgehend abgeschlossene Einheiten darstellen, auch Interfaces, also Schnittstellen zwischen den Klassen. Soll es ermöglicht werden, dass zwei Klassen miteinander arbeiten können, so müssen beide mit den dafür definierten Schnittstellen umgehen können.

Wenn wir uns nun die Mitglieder unserer Gesellschaft als Klassen vorstellen, so stellt sich die Frage, mit welchen Interfaces diese Klassen (die einzelnen Menschen) umgehen können müssen, um ein friedvolles und erfülltes Zusammenleben zu ermöglichen? Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Schüler hierbei ein erstaunlich gutes Gefühl für den Unterschied zwischen generellen Schnittstellen (die zur Kommunikation mit allen dienen) und spezifischen Schnittstellen (etwa spezifisches Wissen über Computernutzung) aufweisen. In der Mathematik-Nachhilfe kam beispielsweise kaum die Frage auf, warum die Schüler die Prozentrechnung verstehen sollten (immerhin fanden sie das %-Zeichen tagtäglich in der Zeitung, im Fernsehen, … vor), wohl aber die Frage, warum sie etwa komplexe Statistik verstehen sollten, wo sie doch kein Interesse daran hatten, Statistiker zu werden.

Ich glaube, dass es für eine jede Schule (auch freie Schulen eingeschlossen) Sinn macht, sich zu überlegen, wie ein solches allgemeines Interface eines erwachsenen Menschen aussehen kann. Dies wird vermutlich gewisse Kommunikationsfertigkeiten in der jeweiligen Landessprache beinhalten, möglicherweise (in Zeiten der Globalisation) auch mindestens eine „Weltsprache“ wie Englisch (hier wäre es wirklich einmal sinnvoll, die Schaffung/Definition einer weltweiten Weltsprache anzudenken), ein gewisses mathematisches Grundverständnis, das in jeder Kommunikation, in jeder Planung und in jedem Konflikt unvermeidbar ist, sowie einige (begründete und erfahrene) Werte und Strategien, die ein friedvolles und tolerantes Zusammenleben erleichtern. Ebenso ein gewisses Grundwissen über wirtschaftliche, politische und geographische Zusammehänge sowie dem Bewusstsein, dass alles, was wir heute sehen und tun, historische Wurzeln in den Entscheidungen vergangener Menschen hat und dementsprechend alles, was wir heute sehen und tun die Lebenswirklichkeit der Menschen heute und in Zukunft maßgeblich beeinflusst.

Anstatt also einer historischen Entwicklung im Bildungssystem ausgeliefert zu sein, plädiere ich für ein bewusstes „Schreiben von Geschichte“. Der Zusammenprall der Kulturen, der durch die zunehmende weltweite Vernetzung vonstattengeht, wird wohl nicht konfliktfrei ablaufen, und wir können ihm auch nicht dadurch entgehen, dass angeblich ohnehin „alle durch unser Bildungssystem laufen“, wie eingangs erwähnt ein hoher Bildungszuständiger gestern meinte. Aber wir könnten uns überlegen, was wir für unumgänglich für ein friedliches und sinnstiftendes Zusammenleben halten, und die Erreichung dieses hohen Zieles, dieses hohen „Interfaces“ als Bildungsziel aller Bürger hochhalten, ob er nun eine Schule in Österreich besucht hat oder nicht.

Bei aller Individualisierung, so wichtig ich sie halte, könnte so möglicherweise gewährleistet werden, dass ein Bewusstsein für die grundlegenden Werte unserer Gesellschaft, die sie zusammenhalten, bestehen bleibt und somit auch eine Inklusion/Integration der individuellen Menschen in eine größere Gesellschaft, vielleicht sogar in die weltweite Gemeinschaft gelingt.

In diesem Sinne: Welche Fähigkeiten, welches Wissen ist tatsächlich notwendig, um ein friedliches und sinnstiftendes Zusammenleben mit allen Mitgliedern der globalen Familie zu ermöglichen? Welche Fähigkeiten, welches Wissen, ist spezifisch für bestimmte Staaten, Länder oder Regionen? Welche sind spezifisch für bestimmte Themen, Tätigkeiten? Je spezifischer und unrealistischer, dass tatsächlich ein jeder Mensch dieses Wissen oder diese Fähigkeiten benötigt, desto freiwilliger könnte man sie anbieten. Je globaler sie benötigt werden, desto vehementer könnte man auf sie hinweisen (auch wenn ich die Art des Erwerbs immer noch freistellen würde).

Weitergedacht könnten diese globalen und spezifischen „Interfaces“ dann auch im Zuge der Migration transparent gemacht werden. Etwa ein transparenter Katalog von Werten, Wissen und Fähigkeiten, die von einem Weltbürger, Österreicher, einem Linzer oder einem bestimmten Facharbeiter erwartet werden, und die er anstreben sollte, unabhängig davon, ob er nun noch ein Kind oder bereits er-wachsen ist.

Es wird an der Zeit, sich nicht nur zu überlegen, wie man Bildungsziele und Lehrplanvorgaben am besten umsetzen kann, sondern auch, welche tatsächlich Sinn machen, warum und in welcher Form sie Sinn machen. Und diese Diskussion im Sinne eines lebendigen, sich stets weiterentwickelnden Prototyps laufend fortzuführen. Denn wenn die Integralrechnung allgemeines Maturaniveau ist, aber wirtschaftliche Zusammenhänge darin nicht vorkommen, dann läuft da für mich etwas falsch.

Niklas

P.S.: Sry für die fehlenden Zwischenüberschriften und die dadurch fehlende Übersicht, aber ich hab jetzt einen Termin und keine Zeit mehr dafür 🙁

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Niklas Baumgärtler

Niklas Baumgärtler interessiert sich für die Kunst der Begeisterung und macht gerne Wechsel- und Hebelwirkungen in Sozialen Systemen sicht- und erlebbar. Mehr über Niklas Baumgärtler...

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