Nein, das Wort „bunterrichten“ ist weder ein Rechtschreibfehler noch eine Bildungslücke, sondern schlicht eine Wortschöpfung aus dem Wort „unterrichten“. Warum das zusätzliche B?
Traditionell hat Schule guten Unterricht anzubieten, aber was bedeutet eigentlich unterrichten? Eine Antwort gibt die in der deutschen Sprache netterweise mögliche Trennung von zusammengesetzten Wörtern: unter-richten. Das Verb unter-richten, Aufgabe der Schule und in weiterer Folge der Lehrkräfte, verweist auf eine Machtrelation: unter-richten, unterstellen, ein Erreichen oder Aufrechterhalten der Akzeptieren der Macht des Unter-richtenden. Guter Unter-richt wäre also demnach eine erfolgreiche Unterordnung unter die Wünsche des Unter-richtenden, in der Schule eben der Lehrkraft. Aber die Lehrkräfte einer Schule sind systemisch betrachtet ebenso anderen Ebenen untergeordnet, unter-richtet. Dem Direktor. Dem Bezirks- oder Landesschulrat. Dem Lehrplan. Die Unter-richtenden werden selbst unter-richtet. Sie werden unter-richtet, dass es ihre Aufgabe ist, gut (effektiv) zu unter-richten.
Dieser Aufruf richtet sich nicht gegen das Was des Unter-richtens (dem Inhalt des Lehrplans, an dem andere Menschen bereits kritisiert haben) sondern gegen diese Kette des Unter-richtens selbst. Unter-richten ist Fremdsteuerung, ist abhängig machen und -halten. Wer Kinder unter-richtet, verhindert ihr auf-richtig werden.
Wer Kinder unter-richtet, arbeitet gegen Widerstand. Unter-richten, eine von aussen herbeigeführte Unterordnung, ist nicht zu verwechseln mit der freiwilligen Unterordnung, bedingt durch ein Akzeptieren von natürlichen Autoritäten. Es ist Druck, es ist Zwang, eine Form von Gewalt. Eine gesellschaftlich akzeptierte Form, aber nichtsdestotrotz Gewalt.
Unter-richten nach einem Lehrplan bedeutet zudem Angleichung an ihn, bedeutet Normalisierung. Vielfalt, Individualisierung sind dazu gegensätzliche Strömungen, störende Faktoren. Nichtsdestotrotz sind sie Realität in vielen Schulen. Man kann Kinder mit Beeinträchtigungen in Sonderschulen und Kinder mit rudimentären Kenntnissen der deutschen Sprache in Förderkurse auslagern. Aber selbst wenn sie so aus dem Blickfeld verschwinden mögen, sie existieren dennoch weiter. Alleine ihre Existenz ausserhalb des Regelsystems deutet nicht nur auf die Schwäche des Regelsystems hin, sondern auf die Schwäche der Forcierung der Regel. Menschen sind nicht homogen.
Bei all der Diskussion um diese Gruppen sollte nicht vergessen werden, dass hinter ihnen Menschen mit ihren Besonderheiten stehen, und vor allem, dass selbst in der Gruppe der als „normalen“ Schulkinder bezeichneten enorme interne Unterschiede bestehen können. Also werden Leistungsgruppen eingeführt und Hierarchien von Bildungsniveaus und Ausbildungsstätten verwaltet. Je nach der Fähigkeit, den jeweiligen systemischen Erwartungen zu entsprechen, sich unter-richten zu lassen, soll dann durch Spezialisten festgestellt werden, wie gebildet man sei?
Dem gegenüber möchte ich ein Bunterrichten vorschlagen, ein Bunter-richten. Während Unter-richten ein Fremd-bestimmen, ein Beschränken der möglichen Handlungsalternativen auf die fremd-bestimmte darstellt (schreibe jetzt diesen Satz von der Tafel in dein Heft!), steht ein Bunter-richten für mich für das Eröffnen von neuen, vormals unbekannten oder nicht umsetzbaren Handlungsalternativen. Das 1×1 kann unter-richtet werden, indem der Schüler fremd-bestimmt bestimmte Lösungen zu bestimmten Rechnungen auswendig zu lernen und bei bestimmten Situationen anzuwenden hat. Oder aber es kann bunter-richtet werden, in dem für bestehende Probleme des Schülers das 1×1 als mögliche Lösungsvariante präsentiert und mit ihm (oder ohne fremde Hilfe) erlernt wird. Streitkultur kann unter-richtet werden, in dem die Lehrkraft die Streithähne auseinander holt und dafür sorgt, dass sie aufhören zu streiten. Oder aber sie kann durch Aufzeigen von Alternativen bunter-richtet werden. Bunter-richten steht also, einfach formuliert, für eine Erweiterung des Handlungsspielraumes, aber auch der Perspektiven. Es geht nicht um das Erreichen von bestimmten Endzielen (der fertige Schüler) sondern um ein Eröffnen von Möglichkeiten für den Schüler, der diese Möglichkeiten nutzen kann – oder eben nicht.
Ich bin nicht naiv genug, zu glauben, ich hätte alle Antworten, wie so etwas praktisch umsetzbar wäre und ist. Mir ist bewusst, dass Schule und das Bildungssystem im Allgemeinen ein in sich durchstrukturiertes System ist, das sich nur langsam ändert. Aber es ist ein historisch gewachsenes System, kein ewiges Naturgesetz. Und alles, was historisch gewachsen ist (danke an einen gewissen Herrn Paulo Freire für diesen Gedanken), ist geworden und kann demnach auch anders werden.
Das Wort „Bunterrichten“ bietet auch noch eine andere Möglichkeit, es in zwei Worte zu teilen: bunt-errichten. Ein jeder Mensch hat seine eigenen Erfahrungen mit dem Lernen, sei es in einer Schule oder ausserhalb, und ich bin der Überzeugung, dass eine jede dieser Erfahrungen wertvoll für eine Bunter-richtung sein kann. Mein Ziel – oder besser gesagt mein Impuls, meine Richtung, denn ein fixes Ziel möchte ich im Sinne einer Bunt-Errichtung nicht setzen – ist es, Ressourcen und Erfahrungen zu verbreiten, die ein Bunter-richten gegenüber dem Unter-richten forcieren. Sei es durch theoretisch-philosophische Überlegungen, systemische Analysen, Praxisanwendungen (erprobte Techniken), Literaturvorschläge oder sonstige Mittel.
Ich würde mich freuen, wenn ihr hier öfter mal vorbeischaut, Kommentare abgebt, Fragen oder Vorschläge habt, kritisiert, Gastbeiträge schreiben wollt oder wie auch immer.
Und wer diesen Beitrag bis hierher gelesen hat, dem möchte ich meinen Dank aussprechen. Und falls er auch noch gefallen hat, keine Angst: der nächste kommt bestimmt.
Niklas