Vor einigen Tagen läutete es an der Tür, und zwei junge Männer stellten sich als Zeugen Jehovas vor. Ich hatte etwas Zeit (sie offensichtlich ebenso), und so verbrachten wir 1,5 Stunden zwischen Tür und Angel diskutierend über Gott und die Welt, wie man so schön sagt. Die beiden wiesen mich mit Hilfe ihres modernen Tablets auf einige Bibeltexte/-Videos und ihre jeweilige Auslegung hin und ich erzählte ihnen von meinen Vorstellungen über ähnliche Themen. Den größten Teil unserer Diskussion habe ich als offenen Austausch genossen, aber bei einigen spezifischen Themen ist mir eine gewisse Voreingenommenheit meiner Gesprächspartner aufgefallen, die es ihnen schwer zu machen schien, auch alternative Sichtweisen als denkbar anzunehmen. Darauf habe ich mich ein wenig näher mit der offiziellen Glaubenslehre der Zeugen Jehovas beschäftigt und festgestellt, dass die von mir wahrgenommene Voreingenommenheit sich ganz gut mit der offiziellen Glaubenslehre überschneidet. Gleichzeitig wirkten die beiden (durchaus intelligent wirkenden) jungen Männer bei genau jenen Themen auch am meisten verunsichert (auch wenn sie sich bemühten, es nicht zu zeigen).
Diese Begegnung und ihre Ungereimtheiten haben mich die letzten Tage weiter beschäftigt. Was treibt zwei intelligente junge Männer an, ihre augenscheinlichen Zweifel an den Grundzügen einer Ideologie nicht zu hinterfragen? In ihrer Missionstätigkeit sind sie vermutlich ständig mit sehr abweichenden Sichtweisen konfrontiert, an alternativen Perspektiven, die ein Um- oder Weiterdenken unterstützen könnten, kann es also nicht wirklich liegen. Auch die subjektive tatsächliche Überlegenheit der Ideologie dürfte nicht der Grund sein, sonst würden eventuelle Zweifel eher dazu führen, dass die Ideologie sich durch die Zweifler und ihre intellektuellen Auseinandersetzungen jeweils weiterentwickelt. Der für mich logische Schluss ist, dass die beiden jungen Männer sich möglicherweise nicht sicher genug fühlen, alternative Sichtweisen auch anzudenken, auszusprechen oder sogar danach zu handeln.
„Bildung“ alleine ist zu wenig
Dieser Schluss – sollte er zutreffen – hat für mich sehr interessante Konsequenzen in vielerlei Hinsicht. Es würde bedeuten, dass die Maxime „Bildung alleine hilft“ in der Bekämpfung radikaler gewalttätiger Ideologien nicht ausreicht. Unlängst habe ich den „Guten Mensch von Sezuan“ von Berthold Brecht entdeckt, und darin beschreibt er das Dilemma, um das es mir geht, sehr gut: es reicht nicht, dass Menschen wissen, was „gut“ ist, damit sie sich auch „gut“ verhalten werden. Ihre Umgebung muss es ihnen auch ermöglichen und im Idealfall sogar fördern. Noch schwieriger ist dies zu bewerkstelligen, wenn es darum gehen soll, Menschen zu kritisch denkenden und handelnden Menschen zu erziehen. Wenn man so will, handelt es sich dabei um die Königsdisziplin: es dürfte erheblich einfacher sein, „gute“ Menschen zu erziehen als selbstständig denkende und handelnde Menschen.
Ein jeder Mensch in unserer modernen Gesellschaft ist stets ein Teil verschiedenster Gruppen, als deren Teil er sich wahrnimmt und als deren Teil er auch von der Gruppe wahrgenommen wird. Je nach Zugehörigkeit zu der jeweiligen Gruppe wird er von jener Gruppe sowie anderen Gruppen unterschiedlich behandelt. Er bleibt nach außen hin Teil der Gruppe, solange er sich an ihre Normen hält oder ihrer Symbolik bedient. Was macht nun derjenige, der die Normen oder Symbole einer seiner Gruppen zu hinterfragen beginnt? Er begibt sich auf potentiell bedrohliches Territorium, weil er riskiert, von seiner Gruppe entweder ausgestoßen oder sogar (vor oder nach dem Ausschluss) aktiv bekämpft zu werden, um ihn zurück an die Gruppennormen anzupassen. Dies mag eher irrelevant in kurz- bis mittelfristigen Modeerscheinungen wie „Emo“-Zugehörigkeiten sein, nicht so jedoch bei den für die eigene Identität oder gar für das eigene Überleben wichtigen Gruppen wie der Familie, dem Freundeskreis, den Kollegen in der Arbeit – aber etwa auch Rechtskonstrukten wie dem Staat.
Meine zwei jungen Besucher dürften wohl nicht bereit sein, den Preis für ein ernsthaftes Hinterfragen der ihre Gruppe definierenden Normen zu bezahlen. Aus Erzählungen eines Bekannten, der eine Zeugen-Jevohas-Aussteiger-Selbsthilfegruppe gegründet hat, dürfte die offizielle Behandlung von „Abweichlern“ darin bestehen, dass die Gemeinschaft soziale Kontakte mit den „Abweichlern“ meidet, was – da generell angeraten wird, sich zunehmend mehr mit Mitgliedern als mit Nicht-Mitgliedern zu treffen, nach einer längeren Mitgliedschaft auch zum angedrohten (oder tatsächlichen) Verlust aller relevanten Sozialkontakte führen kann – auch ohne Anwendung von aktiver Gewalt ein durchaus „effektives“ Mittel zur Aufrechterhaltung der Gruppennormen, wie ich finde.
Ihre tatsächlichen Gründe sind mir natürlich unbekannt. Worum es mir geht, ist der Gedanke, dass kritisches Denken nicht nur die Konfrontation mit anderen Sichtweisen voraussetzt, sondern auch das Gefühl, diese Sichtweisen andenken zu können, ohne elementare Sicherheitsbedürfnisse aufs Spiel zu setzen. Diese elementaren Sicherheitsbedürfnisse lassen sich wohl auch auf andere Staaten übertragen: was, wenn es etwa in den eher totalitär angehauchten „islamischen“ Staaten durchaus genügend Menschen gibt, die diese autoritäre Auslegung des Koran in Frage stellen würden, sie es aber aufgrund der Übermacht der Autoritären nicht wagen, darüber zu sprechen? Was würde eine Schule in einem solchen Staat nützen, die ihren Schülern kritisches Denken beibringen will? Abgesehen davon, dass sie wohl von vornherein nicht geduldet werden würde, würde ein autoritäres Regime, das (berechtigte) Angst vor es in Frage stellendem Denken und Handeln hat, alles tun, um eine Ausbreitung dieses kritischen Geistes zu verhindern. Diejenigen, die es zu lehren versuchen, und diejenigen, die es lernen und praktizieren wollen, wären wohl in akuter Gefahr für Leib und Leben.
Aber wir sind hier in Österreich…
Also zurück nach Österreich, in eine augenscheinlich weniger akute Situation: in eine Schule. Kritisch zu denken bedeutet auch (oder sogar vor allem), zu von gewöhnlichen Menschen nicht vorgesehenen Schlüssen zu kommen. Ein Schüler, der beginnt, das Verhalten seiner Klassenkameraden kritisch zu hinterfragen, stellt sich damit erstmal automatisch außerhalb dieser Gruppe und hat gute Chancen, einiges über angewandte Gruppendynamik erleben zu dürfen – allerdings tendenziell eher als ihr Opfer, wenn es keine Schutzmacht gibt, die ihn und seine Position gegen die Übermacht der Gruppe als ebenso denkbar verteidigt. Diese Schutzmacht kann viele Formen annehmen: die eigenen Eltern, ein mutiger Lehrer, ein Freund, ein Buch, ein Tagebuch, das eigene Gewissen, …
Ein rudimentäres Schema der Entwicklung zum kritischen Menschen wäre wohl ein Verlauf von Kritisch Denken – Kritisch Sprechen – Kritisch Handeln, wobei die Reihenfolge in ihrer Gefährlichkeit gegenüber den eigenen Gruppen gewählt ist. Ich kann relativ gefahrlos kritisch über einen Sachverhalt nachdenken. Die Schwierigkeit hierbei liegt hauptsächlich darin, dass ein kritisches Sich-auseinander-setzen ohne ein Gegenüber schwierig ist – allerdings kann hierbei ein Buch oder das eigene Schreiben eine Hilfe bieten. Seine (eigenen) Gedanken auszusprechen stellt die nächste Gefährdungsstufe dar. Man deklariert sich. Kann es zwar im Notfall abstreiten, aber möglicherweise gibt es Zeugen. Die eigenen Gedanken treten real in die Welt und finden einen Empfänger, führen möglicherweise zu einem Austausch. Die gefährlichste Stufe bleibt das tatsächliche Handeln. Spätestens hier ist mit dem (passiven oder/und aktiven) Widerstand der in Frage gestellten Gruppe zu rechnen.
Ein Ausflug in enthemmte Gruppendynamik
Je nach Identifikation mit der Gruppe können nun verschiedene Situationen eintreten. Der kritisch denkende Mensch kann nun handelnd einfach aus der Gruppe austreten oder von ihr ausgestoßen werden, was relativ konfliktfrei ablaufen kann. Unter Umständen kommt es jedoch zu massiven Konflikten, wenn der sich verändernde Mensch a) nicht austreten will oder b) am Austreten gehindert werden soll (z.B. wollen Eltern, dass ihr Kind in der Familie verbleibt, aber ein Verhalten nicht dulden). Plötzlich kann sich ein Machtkampf um die Vorherrschaft und damit die Richtungsentwicklung in der Gruppe entwickeln. Eine lebendige Gruppe kann ihre Freidenker gut integrieren und an ihnen wachsen (sich also an ihnen erneuern), eine erstarrte, ideologisierte wird ihre Freidenker eher als Feinde betrachten und versuchen, sie a) loszuwerden oder b) sie durch (Gruppen-)Zwang wieder in die Gruppennormen zu pressen.
Was nun im Fall b) passiert ist, dass alle möglichen Mittel angewandt werden, den Widerstand des Unangepassten zu brechen – je nach den ethischen Grundwerten der Gruppe mit einigen (zumindest offiziellen) Einschränkungen: Nicht- oder Falschinformation, Gerüchtestreuen, Rufschädigung, Angreifen (potentieller) Verbündeter, Drohungen, Entzug von Ressourcen, Entzug von Zuneigung und Anerkennung, Abwertung, einfach mal anschreien, … Gruppen sind darin üblicherweise sehr fantasievoll. In einem völlig ungeschützten Rahmen können dazu noch tätliche Gewalt, Vergewaltigung, Folter und Ähnliches kommen. Und nein: Erwachsene sind üblicherweise nicht unbedingt „zimperlicher“ als Kinder, eher im Gegenteil.
Wenn – und dies erscheint für mich der wesentliche Punkt zu sein – es eine schützende Macht in irgendeiner Form gibt, so kann ein anhaltendes Durchhalten des Freidenkers oder Freihandelnden dazu führen, dass die Gruppe sich weiterentwickelt, um die Perspektive des Freidenkers irgendwie in die Gruppe zu integrieren. So kann ein Konflikt zwischen zwei Staaten beispielsweise in gewisser Weise „gewonnen“ werden, indem durch Durchhalten der eigenen Position, ohne selbst in die problematischen Verhaltensweisen des Anderen zu verfallen, die Schutzmacht sich genötigt sieht, korrigierend einzugreifen (oder die „Exekutive“ der Aggressoren derart in moralische Zwickmühlen geraten, dass sie handlungsunfähig werden). Sich rein auf zweiteres zu verlassen kann jedoch – wie die Geschichte der Menschheit zeigt – auch gehörig schiefgehen.
Lehrer als Schutzmacht?
Was im Großen zwischen Völkern gilt, findet sich in abgewandelter Form auch im Kleinen, etwa in Schulen. Wenn es etwa in einer Schulklasse einen mutigen Lehrer gibt, der als Schutzmacht auftritt, auch abweichende Meinungen aussprechen zu dürfen, kann dies einen großen Unterschied für Schüler machen, die sich für eine kritische Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt interessieren. Dies muss (und soll) nicht bedeuten, dass dieser mutige Lehrer in eine Beliebigkeit abzudriften hat, in der alles erlaubt ist, was denkbar scheint. Aber vielleicht ist er mutig genug, den ihm Anvertrauten jene drei unterschiedlichen Räume zu eröffnen: den Handlungsraum, der besonderen Schutz aller notwendig macht, dem Kommunikationsraum, indem mehr besprochen, aber verhetzende Aussagen vermieden werden sollten (wenn sie auch an sich besprochen und analysiert werden könnten) und den mächtigen Raum des individuellen Denkens, aus dessen Meer das Neue in die Welt zu treten pflegt.
Jeder mutige Lehrer (oder jene Lehrerin) wird sich, sollte er ein solches Handeln wagen, selbst einem großen Druck ausgesetzt sehen, weil er, um die so notwendige Schutzmacht ausüben zu können, notwendigerweise selbst kritisch handeln muss. Er wird sich dem Druck seiner Kollegen, möglicherweise seiner Vorgesetzten, manchen Eltern, jenem mancher seiner Schüler und vielleicht sogar seiner Gesellschaft als Ganzes entgegenstellen müssen, alles für ihn in beruflicher wie sozialer Hinsicht relevanter Gruppen mit ihren jeweiligen Interessen. Hierbei wird er zeigen müssen, ob er das, was er sich für seine Schüler wünscht, auch selbst leben kann. Ich weiß nicht, ob man kritisches Denken und Handeln „lehren“ kann. Ich glaube aber, dass man es ermöglichen oder eben verhindern sowie vorleben kann.
Einige Strategien, um mit bedrohlichem Gruppendruck umzugehen
Was für den jeweiligen hilfreich erscheint, wird stets sehr individuell sein. Mir selbst haben bisher vor allem geholfen:
So, nun habe ich einen ziemlich langen Artikel geschrieben und möchte ihn deshalb noch ein wenig zusammenfassen: ich glaube, das kritisches Denken und Handeln für einen Menschen eine gewisse Gefährdung darstellt, weil er sich außerhalb seiner Gruppe stellt. Wenn er sich dieser Gefahr nicht selbst erwehren kann oder eine Schutzmacht verlässlich für seine Sicherheit sorgt, sinkt die Chance, dass er sich traut, seine Welt kritisch zu hinterfragen. Um junge Menschen zu kritischen Denkern zu erziehen, wird es deswegen sinnvoll sein, als Lehrer und Lehrerinnen die Rolle dieser Schutzmacht einzunehmen. Dies kann jedoch nur dann funktionieren, wenn der Lehrer oder die Lehrerin selbst a) innerlich gefestigt genug oder b) von außen genügend unterstützt wird, um dies leisten zu können. Ersteres lässt sich bis zu einem gewissen Grad trainieren, zweiteres betrifft systemische Fragen in der Schulentwicklung und wäre wohl mehrere eigene Artikel wert.
Da es nun jedoch schon spät ist und ich Hunger habe, werden diese warten müssen. Dir, meinem lieben Leser, wünsche ich indes einen Abend voller kreativer Gedanken, und den Mut, sie auch zuzulassen.
Niklas