Für jemanden wie mich, der sich für Menschen und was sie zu Menschen macht interessiert, gibt es wohl nur wenige Bereiche, in denen ich wertvollere Erfahrungen machen kann als eine freie Schule, in der auf allen Ebenen Menschen mehr oder weniger losgelöst von gesellschaftlichen Erwartungen aneinandergeraten und irgendwie miteinander auskommen müssen. Hier stoßen alle Beteiligten immer wieder an ihre Grenzen, machen Fehler, die sie dann bereuen, und meist entschuldigen sie sich dann auch. Manchmal überdauern Konflikte auch einige Zeit, und hin und wieder mag es vorkommen, dass sich der eine oder andere auch eine dauerhafte Abneigung gegen jemanden entwickelt.
Da haben wir nun all die Werkzeuge bei der Hand, von der gewaltfreien Kommunikation bis zur Streitschlichter-Ausbildung, all die Liebe zueinander, die uns immer wieder morgens aus dem Bett lockt und uns nach einem ereignisreichen Tag mit einem Lächeln die Schule verlassen lässt, und doch haben wir dieses Lächeln oft auch hart mit unseren Tränen erkämpft, die wir füreinander vergossen haben. Hier wechseln sich Frustrationen mit Hochgefühlen ab, und nicht an allen Tagen wissen wir, dass Letztere doch überwiegen. Und doch kehren wir wieder, an jene Stätte, die uns aufs Neue einladen will, die uns sanft ruft, uns in ihr zu versammeln.
Denn irgendwo tief in uns spüren wir doch, was hier an jenem Ort mit uns geschehen kann, wenn wir uns auf ihn einlassen können. Dass die Freude, die wir erleben, wenn wir feststellen, dass andere uns anfeuern, während wir Anlauf für den großen Sprung über die aufgestapelten Polster nehmen, vor allem auch eines ist, und zwar echt. Dass die Trauer und manchmal die Wut aus dem Leiden an echten Bedürfnissen stammen, die es dem Anderen ermöglichen, innezuhalten und uns gegenseitig in den Arm zu nehmen. Und wenn dann die Tränen frei fließen können, spüren wir die Kraft, die uns am Ende jenes Stroms erwartet.
Traurige Geschichten
Und doch haben wir alle unsere Geschichte, haben alle gelernt, uns vor denjenigen zu schützen, von denen wir glauben, dass sie es nicht gut mit uns meinen. Und so haben wir gelernt, die Trauer ebenso zu verbergen wie unsere Freude, haben gelernt, „politisch“ zu handeln, und „strategisch“ zu denken, um unsere Widersacher dort zu überrumpeln, wo sie es am wenigsten erwarten. Und so schaffen wir uns verbitterte Feinde, wo wir doch nur Unverständnis vermuten müssten, anstatt aufeinander zuzugehen und uns gegenseitig aufzuklären, was wir unter Freundschaft verstehen, unter Liebe – und einem guten Menschen. Dort, wo wir es wagen, finden wir oft erst wahre Freunde.
Ich habe in meiner Arbeit das Glück, jungen Menschen beim Heranwachsen zusehen zu dürfen, und auch bei ihnen zeigt sich relativ rasch, wer von ihnen gelernt hat, sich anderen zu öffnen und wer von ihnen gelernt hat, sich vor anderen zu schützen und zu verschließen, und welche Folgen dies für ihr Leben (an der Schule) zu haben scheint. Diejenigen, die gelernt haben, sich keine Blößen zeigen zu dürfen, werden oft zu Einzelgängern oder suchen sich andere Grüppchen, die ihnen das Gefühl von Stärke vermitteln können. Gerade, wenn sie sich wohl schwach fühlen, scheinen sie ihre Stärke demonstrieren zu müssen. Kaum sieht man sie trauern, des Öfteren jedoch wütend werden. Andere jedoch scheinen gelernt zu haben, sich in Konflikten eher zu öffnen denn zu verschließen, und manchmal leiden sie auch darunter. Und doch wirken diese Schüler im Großen und Ganzen glücklicher als jene, die sich ihre Strategien zurechtlegen, um zu „gewinnen“. Denn für jeden Sieg, den der Stratege erlangt, schafft er sich mit dem Besiegten einen Gegner, vielleicht sogar einen Feind, wo er durch Offenheit einen Freund hätte gewinnen können.
Konstruktives Leiden?
Es ist manchmal eine schwierige Gratwanderung zwischen dieser konstruktiven Offenheit und jener destruktiver, sich alles gefallen zu lassen. Der Schlüssel dazu lautet wohl Authentizität. Authentisches Feedback einem anderen gegenüber wirft die Konsequenzen seines Handelns auf ihn zurück und nimmt ihn in die Verantwortung. Eine Freundin von mir hat es einmal in etwa so ausgedrückt: „Ich bin es gewöhnt, dass mir jemand auf einen wütenden Kommentar einen ebenso wütenden Kommentar zurückgibt. Wenn du das nicht machst, ist das gemein von dir, weil dann fühle ich mich schlecht und will mich bei dir entschuldigen. Wenn du mich nicht zurück angreifst, muss ich mich fragen, warum ich dich angreife.“
Das bedeutet nicht, dass mir egal ist, was sie tut oder sagt. Aus dem Tai Chi Chuan habe ich gelernt, dass es wichtig ist, stets Kontakt mit dem Anderen zu halten, um seine Energie auf ihn zurückleiten zu können, und auch in der Kommunikation scheint dies ein Grundgesetz zu sein. Ich setze mir keine Strategie zurecht, dem Gegner zuvorzukommen und ihn zu schlagen, ich nehme Kontakt zu ihm auf und helfe ihm, seine eigene „Energie“ zu verstehen, indem ich darauf eingehe und sie ihm zurückleite. Verständnis entsteht dort, wo wir für ein jedes Yang das passende Yin geben können, das dem Yang als Spiegel zur Selbsterkenntnis dient.
Ich habe in meinem Leben noch keinen einzigen „bösen“ Menschen kennengelernt, wohl aber viele Menschen, die nur wenig Ahnung davon hatten, was sie mit ihren Aussagen und Handlungen für Konsequenzen nach sich zogen. Ich habe bisher nur wenige Menschen getroffen, die authentisch genug waren, anderen diese Konsequenzen auch aufzuzeigen, um echtes Lernen zu ermöglichen. Virginia Satir schrieb einst sinngemäß in einem Buch über Familientherapie, dass ein jeder Mensch in jedem Moment versuche, das für alle Beteiligten (die ihm bewusst/wichtig sind) das Beste zu tun, und meiner Erfahrung nach hatte sie durchaus recht damit. Wir müssen uns also weniger darum kümmern, dass Menschen einander Gutes tun wollen, als darum, ihnen aufzuzeigen, wie sich ihr Handeln tatsächlich auf andere Menschen auswirkt, damit sie das Gute, dass sie sich und der Welt tun wollen, auch wirklich so umsetzen können.
Warum Kinder uns doch als Vorbilder brauchen
Wir gehen oft davon aus, dass Kinder erwachsene Vorbilder brauchen, um zu lernen, doch wer ist authentischer als ein kleines Kind, dass sich hemmungslos seinen Tränen und seiner Freude hingibt? Kinder brauchen keine Vorbilder, um authentisch zu sein, aber dringend authentische Erwachsene, um auch in den Wirren der menschlichen Entwicklung authentisch bleiben zu können.
An uns Erwachsenen finden Kinder Vorbilder, was es heißt, „erwachsen“ zu sein, entnehmen ihnen den Rahmen des Möglichen und trennen ihn von dem Bereich des „Kindlichen“, von dem sie sich emanzipieren wollen. Je nachdem, welche Erwachsene in ihrer Umgebung vorfinden, werden sie unter „erwachsen werden“ wohl eher das politische Spiel und die Verleugnung der authentischen Bedürfnisse lernen oder den authentischen Umgang mit ihnen. Ich halte es für wichtig, dass sie auch die sanfte Macht der Offenheit und ihre Konsequenzen an Erwachsenen beobachten können, dass sie nicht „alternativlos“ aufwachsen müssen.
Ich meine es gut mit dir, ich bin nur manchmal etwas unfähig
Ein authentischer Umgang mit den eigenen Bedürfnissen ist nicht gleichbedeutend mit deren sofortigen Erfüllung, solange er auch die Bedürfnisse anderer einbezieht. Dazu benötigen wir zumindest ein Mindestmaß an Empathie, doch auch diese wird wohl durch ein Erspüren der eigenen Bedürfnisse eher gefördert denn gehemmt. Was ich in mir spüre, kann ich auch in anderen nachvollziehen. Viriginia Satir schrieb, Menschen würden das tun wollen, was sie glauben, „das für alle Beteiligten am besten ist“. Nicht immer erkennen Menschen alle anderen Beteiligten oder sie liegen falsch damit, was jene selbst für am besten halten.
Eine Freundin verblüffte mich einst mit der Frage, ob mir eigentlich bewusst wäre, dass nicht alle Menschen denken würden, dass alle anderen Menschen es eigentlich gut miteinander meinen würden. Ich war damals ziemlich verblüfft darüber, denn für mich war es sonnenklar, dass mein Leben um einiges unglücklicher wäre, wenn ich davon ausgehen würde, dass es Menschen, bei denen ich es nicht wirklich wusste, im Zweifelsfall eher schlecht mit mir meinten als gut. Und auch die Erfahrung zeigt mir, dass Menschen, von denen man ausgeht, dass sie gute Menschen sind, sich tendenziell auch so verhalten. Mein Leben wäre wohl unabhängig von den tatsächlichen Handlungen meiner Mitmenschen um einiges unglücklicher, wenn ich davon ausginge, dass andere Menschen mir böses Wünschen würden. Warum also mich selbst unglücklich machen und anderen, die nichts dafür können, die Schuld zuschieben?
Alte Geschichten und neue Potentiale
Auch oder gerade in einer freien Schule gibt es nun historisch gewachsene Konflikte, die nie ganz ausgeräumt wurden und zu anhaltenden Verstimmungen geführt haben. Es ist immer wieder interessant für mich, wie diese Konflikte dazu führen können, dass Menschen untereinander nur noch das voneinander verstehen, was sie glauben, dass der andere sagt, dass sie irgendwann dazu übergehen, das Gesagte des Anderen abzuwerten, bevor sie den Sinn des Gesagten überhaupt verstanden haben. Und so reden sie aufeinander ein anstatt miteinander und vertiefen einen Konflikt, bei dem es längst nicht mehr um die Sache selbst, sondern nur noch um das Negative, das sie in die andere Person hineininterpretieren, geht. Es ist bezeichnend, dass die Lebensdauer jener destruktiven Konflikte mit dem Alter der beteiligten Personen zuzunehmen scheint.
Und so darf es uns nicht wundern, wenn auch die Kinder, die ihre Konflikte einst unter Tränen der Wut und manchmal auch der Ergriffenheit oder Freude ausgetragen haben, lernen, ihre tatsächlichen Gefühle zu verstecken und lernen, ihre Gegnern mit politischem Kalkül zu Fall zu bringen, lernen, die Schädigung des Gegners selbst vor das eigene Glück zu stellen. Oft können Kinder dann auch die negativen Konsequenzen dieser Handlungsweisen beobachten, aber sie benötigen erwachsene Vorbilder, die aufzeigen, wie es noch gehen kann, wenn sie sich nicht mit einem „Das ist eben so, wenn man erwachsen wird“ abfinden sollen.
Niklas