Und Gott sprach: Es werde still.
Doch es wird nicht still im grossen Saal des Favela-Projektes. Also greift die Betreuerin zur Drohung: Wer von euch will in die Hölle kommen? Ihr seid am besten Weg dorthin, wenn ihr nicht folgen könnt! Die Meute beruhigt sich, doch einige Kinder diskutieren noch eifrig weiter, während andere ihnen bereits warnend zurufen, dass sie bald in die Hölle kommen würden und endlich leise sein sollten. Die Betreuerin ruft in Erinnerung, dass sie kurz vorher erst um den Schutz des heiligen Geistes gebeten haben, dieser jetzt hier sei und besonders sensibel wäre und alle ihre Sünden – eben auch, den Erwachsenen nicht zu folgen – direkt an Gott weiterleiten würde. Die Menge verstummt, und die Betreuerin kann mit ihrem Programm fortfahren.
Später erklärt eine andere Betreuerin mit Hilfe von in Stücke geschnittenen Äpfeln und Kartoffeln, dass Menschen oft nicht zwischen bösen (Kartoffelstücke) und guten (Apfelstücke) Menschen unterscheiden können, weil sich diese verstellen. Am Teller können die Kinder noch leicht zwischen Äpfeln und Kartoffeln unterscheiden. Doch als die Betreuerin die Stücke durchmischt und erklärt, dass bei einer Durchmischung, wie in der Welt, dieser guten und bösen Menschen, es nicht mehr so einfach sei, sie zu unterscheiden, stellen die Kinder fest, dass sich sogar der Geruch vermischt hat und sie nun teilweise falsch zuordnen. Danach erklärt die Betreuerin, dass Gott jedoch immer wisse, welche Menschen gut oder schlecht seien, fügt Wasser hinzu – und die Äpfel schwimmen, während die Kartoffeln am Boden bleiben. Himmel und Hölle. Die Guten steigen auf, die Schlechten sinken ab. Grosse Augen bei den Kindern. Einige von ihnen, die zuerst gebannt dem Geschehen beiwohnten, verlieren bei der anschliessenden Bibelgeschichte jedoch die Geduld und fangen an, herumzuzappeln, woraufhin die Betreuerin ihnen erklärt, dass sie auf dem Weg sind, sich den Kartoffeln anzuschliessen.
Gefährliche Botschaften
Ich halte die Methode mit den Äpfeln und Kartoffeln für einen Genieblitz, genial, um die Botschaft hinüberzubringen. Womit ich mich absolut nicht anfreunden kann, ist die Botschaft selbst. In einem anschliessenden Gespräch mit einer Betreuerin stellte sich heraus, dass diese tatsächlich daran glaubt, man würde in die Hölle kommen, würde man beispielsweise den Eltern nicht folgen. Da Religion und Glaube ein durchaus heikles (und sehr individuelles) Thema sind, blieb es vorerst bei diesen mich sehr irritierenden Gesprächen. Aber welche negativen Folgen können solche Botschaften nach sich ziehen? Man denke nur an Kindesmissbrauch…
Wenn Kinder darauf trainiert werden, dass sie für das sich Widersetzen von Anweisungen Erwachsener (allen voran den Eltern) in die Hölle kommen: welchen inneren Konflikt muss dies auslösen, wenn ein Erwachsener etwa ein solches Kind missbraucht? Zu der schrecklichen Situation alleine kommt noch die Angst, bei Nicht-Gehorchen (etwa anderen davon zu erzählen, obwohl der Erwachsene es verboten hat) zusätzlich in die Hölle zu wandern. Ebenso wird es hier im Projekt tunlichst vermieden, etwa über Kondome zu sprechen, denn bevor sie Sex haben, müssen die Jugendlichen heiraten und bei den Hochzeits-Seminaren der Kirche komme das Thema noch früh genug. Bis dahin wird hier wiederum mit der Hölle gedroht und gehofft, dass die Angst tiefer sitzt als das Begehren. Entsprechend viele Teenager-Mütter gibt es hier.
Die Bedrohung der Ein-Sicht
Die Reduzierung auf ein objektives Gut und ein objektives Böse mit den dazugehörigen Folgen von Belohnung und Strafe verpasst die Chance, ein subjektives Empfinden zur eigenständigen Beurteilung zu entwickeln. Es betrachtet andere Perspektiven als Gefahr, weil sie diese absolute Autorität anzweifeln („wenn ihr das nicht glaubt, es steht im Wort Gottes, der Bibel“, oder, besonders schön, „wer nicht daran glaubt, in die Hölle kommen zu können, wandert auf jeden Fall dorthin!“). Aber hinter dieser „Gefahr“, dieser Verunsicherung, die etwa ein Studium des Koran für einen gläubigen Christen darstellen mag, verbirgt sich die Chance einer neuen Perspektive, deren subjektiv sinnvolle Vereinigung mit der alten neue Erkenntnisse bringen kann. Eine Passage aus der Bibel mag für sich ein fixes Gesetz darstellen. Verglichen mit einer ähnlichen Passage aus etwa dem Koran kann unterschieden werden, ob es sich um eine historische Besonderheit oder in beiden Werken ähnlich beschriebene Passage handelt. Es kann die Funktion, die Logik hinter den spezifischen Anweisungen erforscht werden und in das eigene Selbst- und Weltbild inkludiert werden.
Dies erfordert Mut – sowohl vom Studierenden wie auch vom Betreuenden, und Vertrauen. Vertrauen, dass am Ende dieses Prozesses der Suche und der Unsicherheit ein Mensch steht, der sich nicht nur mechanisch an Anweisungen hält, sondern ihren Sinn versteht, ihr Ziel zu dem seinen gemacht hat – oder erkannt hat, dass dieser Weg nicht der seine ist. Manche, die angeblich vom Weg abkommen, sind vielleicht auch nur die Pioniere einer neuen, besseren Welt.
Lasset nachfolgende Generationen über sie richten.
Niklas