Die Geschichte vom MBA, der auf der Strasse lebte

(Letztes Update von Niklas Baumgärtler am 26.5.2021)

Vor einigen Tagen sah ich ein Video an, in dem ein Mann sein Experiment beschrieb, einen Monat lang einem jeden, der ihn um etwas beten würde, auch tatsächlich etwas zu geben. Dieser Mann war Fundraiser für eine global agierende Plattform für Sozialprojekte und entdeckte in sich einen Widerspruch zwischen seiner Arbeit und seinem Privatleben, den er zu überwinden suchte. Und dann fiel mir wieder ein, wie oft ich (auch an mir selbst) beobachtet hatte, dass viele Menschen, die auf der Strasse um Geld angeschnorrt werden, entweder die Bettelei ignorieren oder dem Bettler eben seine 1-2 Euro in die Hand drücken, damit er sie in Ruhe lässt.

Es sind, nüchtern betrachtet, zwei Verhaltensweisen, die dem anderen eines klar machen: du interessierst mich nicht. Was mich wirklich interessiert, ist meine Ruhe, meine Erfahrung, ungestört die Landstrasse entlang schlendern zu können, meinen kleinen Kindern nicht erklären zu müssen, warum diese Sozialschmarotzer nicht auch noch von mir unterstützt werden. Warum haben die keine vernünftige Arbeit? Vor einigen Tagen fragte mich ein Freund genau diese Frage, doch als ich ihn aufforderte, diese Menschen doch persönlich zu fragen, gab er zu, dass er Angst vor ihnen hatte. Sie waren ihm unheimlich, undurchschaubar, unnahbar, unmenschlich. Ohne Geschichte. Ohne Zukunft. Zumindest keine, die irgendjemanden zu interessieren scheint.

Man könnte nun natürlich sagen, das alles gehe uns nichts an. Sind selber schuld, dass sie hier sind, sollen doch zurück nach Afrika oder woauchimmer sie her sind, interessiert doch eh keinen. Aber andererseits interessiert es mich eben doch. Was tut dieser Mensch in der Landstrasse? Warum tut er sich das tagein, tagaus an, in klirrender Kälte herumzustehen und seine Kupfermuckn zu verkaufen? Warum sitzen diese Menschen in kleinen Grüppchen auf dem kalten Boden herum? Ertragen es, von allen Seiten angesudert zu werden, während sie sich oft rührend um ihre Hunde kümmern. Was treibt diese Menschen an? Was ist ihre Geschichte? Welche Zukunft erträumen sie sich?

Heute nahm ich endlich meinen Mut zusammen und setzte meinen Plan um, einen dieser Überlebenskünstler der Strasse zu interviewen. Er bekam von mir 10 Euro geschenkt, weil einem jeden bewusst sein sollte, dass der eine Euro, den wir ihnen zur Beruhigung unseres eigenen Gewissens in die Hand drücken, kaum etwas bewirken wird. Aber jemanden als Mensch wahrzunehmen, sich für seine Geschichte und seine Träume, die ihn zum Menschen machen, zu interessieren, mag vielleicht doch etwas bewirken. Vielleicht findet ihr in Zukunft mehr solcher Geschichten hier. Oder könnt sie sogar selbst erzählen, weil ihr den Mut besessen habt, die Mauer, die uns im Alltag trennt, für ein paar Minuten zu überwinden und in ein Herz zu schauen. Aber nun lasst uns beginnen:

Oh lord, won’t you buy me a mercedes benz

Er war aus Afrika nach Österreich gekommen. Wir tun dann immer so, als wäre damit alles gesagt, aber wie einige von euch vielleicht bewusst ist, besteht Afrika aus einer Vielzahl von kleinen und grösseren Nationen mit jeweils unterschiedlicher Kultur. Alleine im Tschad beispielsweise werden um die 250 verschiedene Sprachen gesprochen. In seiner Region gab es kaum Jobs, kaum Geld, kaum Möglichkeiten, etwas aus seinem Leben zu machen. Aber es ging das Gerücht um, in Europa würde es einfach sein, zum gemachten Mann zu werden, und die immer wieder heimkehrenden Einheimischen, die vor Jahren gegangen waren, fuhren ihre Mercedes Benz, also würde schon etwas dran sein. Er wollte also ein österreichisches Visum beantragen, das natürlich abgelehnt wurde. Dazu brauchte man Geld, und Geld hatte er eben nicht.

Irgendwann jedoch erzählte ihm jemand, dass es da andere Möglichkeiten gab, nach Europa zu kommen. Um umgerechnet 20, vielleicht 25 Euro würden sie mit dem Boot hineingeschmuggelt werden. Sie würden schnell Arbeit finden, und es sei sicher. Über Mali ging es dann zur Küste, 50 Menschen in einem Boot. Nur knapp die Hälfte überlebte die Fahrt, weil die andere Hälfte ohne besonderen Grund während der Überfahrt ins Meer geworfen wurde. Sie kamen an in Italien, ohne Pass und natürlich auch ohne Arbeitserlaubnis oder Geld. Ein Zurück gab es nicht mehr, sie mussten sich eben durchschlagen.

Per Anhalter ging es nach Österreich, wo sich das Gerücht vom „goldenen Land“, das die Menschen mit den Mercedes erzählten, als Märchen entpuppte. Es gab hier keine Arbeit, und schon gar nicht für diejenigen, die „inoffiziell“ eingereist waren. Er kam im Winter, ohne Geld, ohne Papiere, ohne Menschen, die ihn liebten oder auch nur kannten, bei denen er die kalten Nächte verbringen oder mit denen er auch nur reden konnte. „Afrikaner überleben“, meinte er schlicht, als ich ihn fragte, wie er das bei diesen Temperaturen aushalten würde. „Und wir lächeln, egal wie traurig wir sind. Siehst du, ich lächle. Aber es ist hart.“

I’m the invisible man

Kurz nach der Ankunft, nach den ersten Nächten auf der Strasse und dem Einsetzen der traurigen Realität, dass er sich in eine Sackgasse verlaufen hatte, kamen die ersten unmoralischen Angebote von „Bekannten“. Es gäbe eine Nische im Handel, in denen eine Arbeitserlaubnis nicht nötig sei. Es sei ein lukratives Geschäft, und er könne sofort anfangen, vielleicht schon bald einer der Mercedes-Menschen sein. Doch er lehnte ab, wohl wissend, dass der Drogenhandel sein Sargnagel sein würde. Nein, er würde lieber auf ehrliche Weise sterben. Und so führt er eben den täglichen Überlebenskampf fort.

Ein Bekannter hat ihm von der Kupfermuckn erzählt, dass es ein ehrlicher Job sei und dass auch er diese Zeitungen vertreiben könne, also fing er eben an. Für jede Zeitung um 2 Euro erhält er 1 Euro, den er behalten kann. Österreicher seien sehr nett, meinte er, in Deutschland würde das gar nicht funktionieren, hätte ihm ein Freund von dort erzählt. Im Durchschnitt verdient er um die 10 Euro am Tag, die er zur Hälfte für eine Nacht in einer Obdachlosenschlafstätte ausgibt, Essen kann er von dem restlichen Geld, wenn er Glück hat, 1 Mal am Tag. Ja, es sei schon hart, und nicht das, was er sich vorgestellt habe, aber Afrikaner überleben. Und lächeln.

Could you be loved?

Welche Perspektiven er für sich sehe, habe ich ihn noch gefragt. Und da hat er mir erzählt, er würde gerne als Student anerkannt werden an der JKU. Aber es kostet Geld, seine in Afrika absolvierten Scheine hier anrechnen zu lassen, um die 800 Euro. In 2-3 Jahren also leistbar, wenn er fleissig spart. Er hofft ja insgeheim dann doch heimlich ein wenig darauf, dass plötzlich jemand kommt und ihm ein wenig unter die Arme greifen kann. Weil es doch bitter ist, wenn es am Geld fehlt, dass man nicht arbeiten darf, um das Geld zu verdienen, das für die Arbeitserlaubnis nötig wäre.

Seinen Master in global management hätte er eben gerne hier in Linz gemacht, einen dreijährigen Studiengang, der ein Jahr hier, ein Jahr in Kanada und ein Jahr in Taiwan absolviert wird. Seinen Wirtschafts-Bachelor hat er ja schon, und auch seinen executive MBA, in Indien gemacht. Mit seiner Bildung, würde sie auch anerkannt werden (also hätte er auch das Geld dafür, weil laut JKU steht dem angeblich sonst nichts im Wege) würde er wohl zu den Besserverdienern Österreichs gehören. Aber er ist halt Schwarz-Afrikaner. Die haben für uns offensichtlich keine Bildung, wenn sie nicht auch Geld haben. Keine Geschichte. Keine Zukunft. Er ist halt Afrikaner. Er wird überleben, und er wird weiterlächeln. Bis er den Durchbruch geschafft hat oder dabei drauf geht.

Auch wenns manchmal schwer ist.

Niklas

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Niklas Baumgärtler

Niklas Baumgärtler interessiert sich für die Kunst der Begeisterung und macht gerne Wechsel- und Hebelwirkungen in Sozialen Systemen sicht- und erlebbar. Mehr über Niklas Baumgärtler...

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