Die Filter unserer Wahrnehmung

(Letztes Update von Niklas Baumgärtler am 26.5.2021)

Vor einigen Jahren durchlebte ich eine Phase in meinem Leben, in der ich mich für ein glückliches Leben entschieden hatte. Wie diese glückliche Phase exakt begann, ist in den Untiefen meiner Erinnerung verloren gegangen. Aber ich kann mich daran erinnern, mich dafür entschieden zu haben, Glück in die Welt auszustrahlen, und jegliche Reaktionen meiner Umwelt positiv zu interpretieren.

Die Konsequenzen waren unglaublich. Über Monate, Jahre traf ich kaum je einen Menschen, mit dem ich negative Erfahrungen gemacht hätte. Lernte fast tagtäglich wunderbare neue Menschen kennen, und fühlte mich im Großen und Ganzen pudelwohl mit mir selbst und meiner Umgebung. Mein Selbst-Vertrauen war groß, und noch größer war mein Welt-Vertrauen.

Jahre später sorgte ein ähnlich ausgeprägtes Urvertrauen in das Gute in der Welt dafür, dass ich in meiner Naivität die Möglichkeit politischer Intrigen und Machtkämpfe in meinem Arbeits-Umfeld völlig ausblendete, selbst als die Anzeichen dafür für jeden anderen offensichtlich gewesen wären. Es folgte eine längere Zeit, in der ich versuchte, mit diesem „realistischeren“ Weltbild klarzukommen. Eine wichtige Zeit, in der ich viel über die Komplexität des menschlichen Seins und Miteinanders gelernt habe. Aber glücklicher hat mich diese Zeit nicht gemacht.

Oft dachte ich an jene Zeit vor einigen Jahren zurück, als völlig unabhängig von äußeren Umständen in mir stets die Sonne zu scheinen schien, und fragte mich, warum es mir nun, Jahre später, so viel schwerer fiel, diesen unbeschwerten Zustand erneut zu erreichen. Natürlich hatten sich auch einige Umstände seit damals geändert: viele meiner besten Freunde hatten sich ebenso verändert, oder lebten mehrere Hundert Kilometer entfernt von mir. Ich war voll ins Arbeitsleben eingetreten, die „Schonzeit“ des Studiums war nun offensichtlich vorbei.

Und doch… irgendetwas schien mir falsch daran zu sein, hier nur eine Art „natürlichen Verlauf“ eines Lebens nachgezeichnet zu sehen. Vor allem aber auch frustrierend: was für eine Verarschung war ein Leben, das einen erst 20-25 Jahre lang zeigte, wie sich Glück anfühlen kann, um dann nochmal 3-4x so lang zu sagen „Sry, diese Phase ist jetzt vorbei für dich“?

Und dann begann mich eine noch sehr nebulöse Idee nicht mehr loszulassen: dass unsere Identität und Weltbild möglicherweise gewissermaßen Filter darstellen – die wir bewusst kontrollieren lernen können.

Filter unserer Wahrnehmung

Ich stellte mir die Frage erneut, warum ich vor einigen Jahren jeden Tag unglaublich geniale Begegnungen hatte und jetzt nicht mehr. War es tatsächlich nur an meiner Entscheidung gelegen, die Welt positiv zu betrachten? Erschufen wir durch unsere Erwartungen – wie es manche behaupteten – tatsächlich erst die objektive Wirklichkeit?

Es schien irgendwie unrealistisch, davon auszugehen, dass sich innerhalb weniger Jahre die Anzahl an sympathischen Menschen objektiv so dermaßen verringert hatte. Was also, wenn ich schlicht die Fähigkeit eingebüßt hatte, sie wahrzunehmen? Angenommen, auch heute würden sich ca. gleich viele geniale Menschen in meinem Umfeld bewegen, aber ich wäre gewissermaßen „blind“ für sie geworden: würde ich dann nicht in meiner subjektiven Wahrnehmung keine sehen, obwohl sie objektiv betrachtet durchaus da waren? Ich hatte sie gewissermaßen aus meinem subjektiven Erleben „ausgefiltert“. Und da mein subjektives Erleben mein tatsächliches Erleben darstellte, erlebte ich die Welt eben nun nicht mehr so interessant und voll sympathischer Menschen als früher.

Dies würde sich selbst dann nicht ändern, wenn in meinem Umfeld aus irgendeinem äußeren Grund plötzlich doppelt so viele sympathische Menschen herumlaufen würden – ich würde sie trotzdem nicht sehen können, weil ich dann eben doppelt so viele Menschen aus meinem bewussten Erleben ausfiltern würde. Oder umgekehrt: wenn ich mehr sympathische Menschen treffen möchte, reicht es nicht, auf bessere Zeiten zu hoffen – ich muss stattdessen meinen Filter „säubern“ bzw. neu einstellen.

Das hatte ich wohl damals ohne es zu wissen richtig gemacht: ich hatte meine Filter darauf eingestellt gehabt, mir hauptsächlich positive Seiten der Welt zu zeigen. Vermutlich passierte damals ebenso viel Negatives und Positives wie jetzt auch, aber damals hatte ich durch meine Entscheidung das Negative ausgefiltert, und dadurch fast nur Positives erlebt.

Nun, die letzten Wochen, habe ich ganz bewusst damit experimentiert, und festgestellt, dass das Phänomen beständig ist: wenn ich meine Filter bewusst zu lenken beginne, verändert sich mein subjektives Erleben entsprechend. Ich beginne wieder, Möglichkeiten wahrzunehmen, die ich die letzten Jahre von vornherein herausgefiltert hatte. Treffe plötzlich wieder unzählige interessante Menschen. Irgendetwas muss dran sein an meinem Filter-Konzept…

Unser mehrstufiges Filtersystem

Die Schwierigkeit, mit diesen Filtern zu arbeiten, ist, dass wir sie meistens unbewusst einsetzen. Unsere bewusste subjektive Wahrnehmung ist ja bereits vorgefiltert, daher ist es schwierig, den Filterungs-Prozess überhaupt zu bemerken.

Glücklicherweise kann uns der Vergleich unseres Erlebens mit unserem vergangenen Erleben (wie oben beschrieben) helfen, oder auch der Vergleich mit anderen Menschen, die die Welt anders wahrnehmen als wir. Ein eher depressiv „gefilterter“ Mensch wird in der Welt andere Möglichkeiten wahrnehmen als ein positiv „gefilterter“ Mensch, und uns mit anderen zu vergleichen, zeigt uns die Realität auf, dass ein jeder Mensch filtert.

Da ich erst dabei bin, mit dem Konzept der Filter zu experimentieren, hier nur eine Art erste Skizze, wie unsere Filter-Hierarchie nach meinen ersten Experimenten und Reflexionen aufgebaut sein könnte:

Ganz unten finden wir die Welt, wie sie ist.

Unsere Sinne sind der erste Wahrnehmungs-Filter. Alles, was unsere Sinne nicht wahrnehmen können, bleibt uns verborgen. Daraus entsteht unsere Wahrnehmung, gewissermaßen die Rohe Summe an Sinnes-Eindrücken.

Diese große Anzahl an Sinnes-Eindrücken wird nun eingeordnet in bekannte Muster, um sie zu deuten. Unser Bewusstsein nimmt diese ja nicht in Roh-Form wahr, sondern in ihrer angenommenen „Bedeutung“. Es kann nur deuten, was es einordnen kann. Kann es Sinnes-Eindrücke nicht einordnen, so entsteht Unklarheit/Überforderung. Dieser Filter ist gewissermaßen unser Bild von der Welt.

Ein weiterer Filter ist unsere eigene Identität. Möglicherweise deuten wir unsere Wahrnehmung korrekt, dass ein Mensch an unserer Stelle nun diese oder jene Handlungsmöglichkeiten hätte, aber wir als der Mensch, der wir sind, schränken diese weiter ein, um unsere Identität nicht infrage stellen zu müssen. Beispielsweise mag die Deutung der Situation aufgrund der Vorfilterung anzeigen, dass ein Anschreien des Gegenübers angebracht wäre, aber als „Mensch, der nie andere anschreit“ (=Identität) tun wir das nicht.

Ein bewusstes Verändern der Filter

Erfolgreiche Menschen haben möglicherweise einfach ein konstruktiveres Filter-System, das ihnen Möglichkeiten sichtbar macht, die andere aus dem bewussten Erleben herausfiltern würden. Mir ist zum Beispiel aufgefallen, dass ich, wenn mich jemand gefragt hat, was ich beruflich mache, eine Zeit lang (korrekterweise) gemeint habe, ich „mache mich gerade selbstständig“. Diese Identität filtert die tatsächlichen Möglichkeiten in einer Situation anders, als würde ich von mir selbst behaupten, ich „bin selbstständig“. Vielleicht fällt es mir beispielsweise als „neuer“ Selbstständiger schwerer, für meine Angebote Geld zu verlangen, als es mir als Selbstständiger (ohne den Zusatz „bin gerade dabei es zu werden) fallen würde.

Wie aber verändert man nun tatsächlich seine Filter? Das kommt meiner Ansicht nach ein Stück weit auf die Art des Filters an, den man verändern möchte. Möchte man seine Sinnes-Filter verändern, kann man direkt seine Sinne verfeinern. Etwa wenn jemand, der gerne Wein trinkt, einen feineren Gaumen bekommen möchte, oder ein Musiker sein Gehör trainiert.

Will jemand seinen Filter verändern, der die Einordnung und Deutung der Wahrnehmung betrifft, so wird er sich damit beschäftigen, alternative und komplexere „Muster“ zu erlernen, um seine Wahrnehmung verfeinert zu den Deutungen zuordnen zu können, die ihnen entsprechen. In meinem Fall beispielsweise habe ich die letzten Jahre gelernt, auch die „dunkle Seite“ des menschlichen Miteinanders wahrnehmen und korrekter deuten/einschätzen zu können. Es hat mich in der Zeit nicht glücklicher gemacht, aber mich in stimmigeren Kontakt mit der Welt gebracht. Man könnte sagen, meine Deutungen der Wahrnehmung ist realistischer geworden, weil ich mehr Möglichkeiten habe, sie in verschiedene zur Verfügung stehende Muster einzuordnen und entsprechend zu deuten.

Geht es um den Filter der eigenen Identität, so kann der universelle Entwicklungskreislauf, über den ich bereits viel geschrieben habe, hilfreich sein. Kaum jemand schafft es auf Dauer, gegen das eigene Selbstbild zu handeln, deshalb ist es wichtig, auch diesen Filter genau zu betrachten.

Die drei Filter bauen gewissermaßen aufeinander auf – jemand, der beispielsweise nur einen sehr groben Sinn für Emotionen hat, z.B. nur subjektiv „gute“ von „schlechten“ unterscheiden kann, dessen Einordnung der Sinnes-Informationen wird (in diesem Bereich) auch nur eine geringe Komplexität erreichen können. Wenn dieser Jemand nun lernt, feiner zwischen verschiedenen Emotionen zu unterscheiden, so wird es ihm auch leichter fallen, seine  Umgebung einschätzen zu lernen. Meine Sensibilität für Emotionen ist beispielsweise extrem ausgeprägt, jene für das Riechen lächerlich gering.

„Glück“ filtern?

Ist an diesem zugegebenermaßen noch etwas nebulösen Filter-Modell etwas dran, so würde es für mich gut erklären, warum ich vor einigen Jahren schlicht durch Entscheidung eine so glückliche Zeit erlebt habe: ich hatte bewusst meinen Filter der Deutung der Welt so „eingestellt“, dass ich überall Schönheit und Möglichkeit wahrnahm, und die „negativeren“ Interpretationen der Welt schlicht herausgefiltert hatte. Das machte es einfach, an das Gute in der Welt zu glauben, und einfach für die Welt, mir mein Weltbild zu bestätigen, weil ich das Positive, das ich in der Welt annahm, auch selbst ausstrahlte.

Es machte mich aber auch verwundbar, von der „dunklen Seite“ des Menschlichen, die ich dabei ausfilterte, überrumpelt zu werden. Es verhinderte, dass ich die Fähigkeit zur Einordnung und Deutung entwickelte, aus den für andere wohl offensichtlichen Anzeichen in meiner Umgebung schlau zu werden und mich entsprechend für die bevorstehenden Kämpfe zu rüsten. Gewissermaßen zog ich fröhlich, nichtsahnend und unbewaffnet in einen Krieg gegen gut vorbereitete Gegner – den ich natürlich haushoch verlor.

Es waren schmerzliche Erfahrungen, aber auch wertvolle: die Welt nur positiv zu filtern, reicht nicht. Man muss auch die andere, „dunklere“ Seite sehen können, um gerüstet zu sein. Muss – wie es in einigen Kampfkünsten so schön heißt – lernen zu kämpfen, um nicht kämpfen zu müssen.

Die Welt an sich ist weder gut noch schlecht. Sie ist einfach. Unsere subjektive Welt jedoch, die Welt, die wir erleben, für die sind wir mitverantwortlich, weil unsere Filter sie gestalten.

Niklas

P.S.: Nächsten Dienstag, 19:00, halte ich im FreiRaumWels einen Vortrag über den universellen Entwicklungskreislauf, die Wochen drauf auch noch weitere. Bitte weitersagen – und natürlich auch selbst vorbeischauen, wenn sichs irgendwie ausgeht 🙂

Portrait Niklas Baumgärtler

Niklas Baumgärtler

Niklas Baumgärtler interessiert sich für die Kunst der Begeisterung und macht gerne Wechsel- und Hebelwirkungen in Sozialen Systemen sicht- und erlebbar. Mehr über Niklas Baumgärtler...

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