Die andere Seite der Medaille

(Letztes Update von Niklas Baumgärtler am 26.5.2021)

Es gibt einen Satz, den ich (in all seinen verschiedenen Formen) langsam nicht mehr hören kann: Ich würde, wenn ich könnte. Ich würde meinen Freund ja verlassen, aber er würde dann unglücklich sein. Ich würde mich ja gerne selbstständig machen, wenn ich könnte, aber damit würde ich ein Risiko eingehen, dass mir nicht geheuer wäre. Ich würde ja gern glücklich sein, wenn ich nur könnte. Ich würde ja gerne… nein, würdest du nicht. Du wirst Situationen aus dem Weg gehen, die aus deinem könnte ein Kann zu machen vermögen, und selbst wenn dieses Kann eintritt, wirst du einen Rückzieher machen, weil du Angst hast. Angst vor deiner eigenen Macht, die du dir so zu wünschen scheinst, vor allem aber vor ihrer Kehrseite: der damit einhergehenden Verantwortung.

Viel schrieb ich hier über die Freiheit, die, dem Lernenden im Gegenspiel mit seinen individuellen Fähigkeiten gelassen, ihm wahre Freudensprünge des Lernens ermöglichen könne. Aber all diese Freiheit nützt ihm nichts ohne dem Bewusstsein seines eigenen Wertes und seines beinahe unendlichen Potentials. Ohne diesem Bewusstsein wird er sich überfordert fühlen, wird er sich selbst klein halten, seine Flügel, nun ungestutzt, doch nicht ausbreiten, den Flug nicht antreten. Sein Kopf sagt ihm immer noch, dass es ja nicht funktionieren kann, es sei ja rational recht unwahrscheinlich und warum für diese dämliche Idee des Fliegens den Kopf riskieren?

Bleiben

Einer der traurigsten Anblicke, die diese Welt uns bietet, ist neben all der materiellen Armut wohl eine Armut der Hoffnung, der Hoffnung, aus eigener Kraft über uns selbst hinauszuwachsen. Wir würden ja alle, wenn wir nur könnten, nur seltsamerweise kann es augenscheinlich kaum jemand. Seltsamerweise scheinen die Möglichkeiten, der günstige Wind, stets an uns vorüberzuhuschen, uns beinahe auszulachen. Ohnmächtig, machtlos stehen wir vor unserem Schicksal, beobachten, wie unsere Träume in uns blühen, um zu verwelken, ohne jemals Früchte zu tragen. Es ist schade, aber kann man nichts machen. Wir würden ja, natürlich, wenn wir nur könnten.

Der Mensch als Spielball des Schicksals wirkt mir wie eine recht klägliche Karikatur des menschlichen Potentials, dessen Erblühen ich in einigen Menschen bereits beobachten durfte. Das Könnte ein Schutzmechanismus, der uns vor Verantwortung schützt, das Würde die Verlagerung eines Traumes in unerreichbare Ferne, gerade nahe genug, uns am Leben zu erhalten, aber weit genug, nie erreicht zu werden. Ich würde ja gerne, aber ich kann nicht, ehe ich in Pension gehe. Um dann zu gebrechlich zu sein, um mir den alten Traum vom Reisen noch zu erfüllen. Schicksal oder doch eine unbewusst herbeigeführte, vorhersehbare Enttäuschung?

Werden

Verantwortung für sein Werden zu übernehmen, bedeutet, neben der gern übernommenen Verantwortung für positive Erlebnisse auch die Verantwortung für „Fehler“, für alternative, manchmal als Umwege erscheinende Wege zu übernehmen. Bedeutet, nicht darauf zu warten, dass eine fremde Macht zufällig günstig gestimmt ist und uns von sich aus zu Hilfe eilt, geschweige denn überhaupt weiss, was wir brauchen. Bedeutet, es diesen fremden Mächten, unseren Mitbewohnern dieser Welt, einfach zu machen, uns zu helfen, sie direkt um Hilfe bei der Erfüllung unserer Bedürfnisse zu bitten, und ebenso zu erkennen, dass wir kein wie auch immer verdientes Recht auf diese Hilfe haben sondern diese Hilfe aus ihrem freien Willen entspringen muss.

Verantwortung für sein Werden zu übernehmen, bedeutet, den Satz ich würde, wenn ich könnte, in ein ich tue, was ich kann und bitte um Hilfe bei dem, was ich noch nicht kann umzuwandeln. Ich entwickle zunehmend eine Abneigung gegen die Feststellung, dass jemand etwas eben nicht kann (ein Bruder des ich würde, wenn ich könnte), weil dieses Nicht-Können einen Zustand darstellt, kein Schicksal. Natürlich werden die wenigsten, die sich zum ersten Mal vor ein Klavier setzen, sofort einen Beethofen spielen können. Aber die meisten Menschen haben das Potential, wenn sie den Willen dazu haben, ihr Klavierspiel mit der Zeit zu verbessern.

Es ist der Wille zum Werden, der Lernen überhaupt ermöglicht, und der Wille zum Bleiben, der Lernen verhindert, und beide mögen ihre Berechtigung, ihre Zeit haben. Aber lasst euer würde-ja mal zuhause, liebe Freunde, und steht zu euren Entscheidungen. Wer zufrieden mit seinem Leben ist, der rede nicht von Könnte und Würde, denn alles, was euch zu einem Kann fehlt, ist der Wille zur Veränderung. Und wollt ihr Veränderung, so vergesst eure schönen Entschuldigungen und schreitet zur Tat.

Klingt einfach.
Ist es auch.

Niklas

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Niklas Baumgärtler

Niklas Baumgärtler interessiert sich für die Kunst der Begeisterung und macht gerne Wechsel- und Hebelwirkungen in Sozialen Systemen sicht- und erlebbar. Mehr über Niklas Baumgärtler...

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