Da ich nun nicht mehr an einer Regelschule arbeite und mich in einer Position befinde, in der ich über die Aufnahme, Ablehnung wie auch Verabschiedung der die Institution besuchenden Kinder und Jugendlichen zu entscheiden habe, stellt sich für mich die Frage, ob es für die langfristige Entwicklung der Besucher besser ist, den Besuch bedarfs- oder beziehungsorientiert zu regeln. Bedarfsorientierung würde bedeuten, den Besuch davon abhängig zu machen, ob der Besucher gerade Bedarf an (Lern-)Unterstützung hat, was einerseits eine gewisse Freiwilligkeit des Besuches voraussetzt, andererseits aber bei einer Art „Slot-System“ auch bedeutet, dass die – begrenzten – Plätze für Besucher für diejenigen reserviert sind, die (lerntechnisch) tatsächlich bedürftig sind. Oder im Umkehrschluss: wer zu gute Leistungen bringt, ist raus. Nicht unbedingt die beste Voraussetzung für die Verbesserung der Leistungen.
Eine andere Variante (die ich derzeit präferiere) wäre ein eher beziehungsorientierter Ansatz, der in seiner Ganzheitlichkeit mehr als die eine Rolle des Bedürftigen, des Unterstützenswerten ermöglicht und den Besucher damit weniger in seiner Rolle einzementiert. In der Folge kam mir dann der Titel dieses Artikels, die „3 heilsamen Erfahrungen“, in den Sinn. Erfahrungen, die ich nun näher beschreiben möchte:
Diese heilsame Erfahrung beschreibt die Wahrnehmung einer Umgebung, in der jemand zu der Wahrheit, zum realen Ausmaß seiner Kompetenz stehen kann, ohne fürchten zu müssen geächtet, ausgelacht oder sonstwie beschämt zu werden. Es ist die Scham darüber, etwas (noch) nicht zu können, was wir glauben, dass wir schon können sollten, die verhindert, dass wir in Zukunft mehr können werden. Es ist der Mut, zur Wahrheit im Moment zu stehen, die Entwicklung ermöglicht. Es braucht die heilsame Erfahrung, dass mein aktueller Stand an Kompetenzen nicht dazu führt, ausgeschlossen zu werden. Ich muss noch nicht gelernt haben. Ich darf noch lernen.
Diese heilsame Erfahrung beschreibt die Wahrnehmung der eigenen Kompetenz und Selbstsicherheit bezogen auf bestimmte Fähigkeiten oder Wissensgebiete, und der einfachste Weg, diese Erfahrung zu machen, ist jemand anderen erfolgreich etwas zu lehren. Ich bin kompetent genug, zu lehren.
Die dritte heilsame Erfahrung beschreibt die Loslösung sowohl von der Rolle des Lernenden als auch des Lehrenden, was in gewisser Weise der Muße entspricht. Ich darf auch nichts tun. Nichts darstellen. Ich darf einfach nur ich sein.
Das Problem der „passenden“ Zeit jeder Rolle
Nun gibt es – gesamtgesellschaftlich betrachtet – eine Art Konsens, dass jede dieser Erfahrungen grob einer bestimmten Zeit oder Lebensphase zugeordnet ist. Die Erfahrung der Bedürftigkeit wird Kindern, Jugendlichen und vielleicht noch jungen Erwachsenen zugestanden, aber ab einem gewissen Alter hat man dann schon auch kompetent zu sein und sollte etwas „schon längst wissen“. Erwachsene Besucher und Mitarbeiter haben dadurch Schwierigkeiten, sich eine gewisse Bedürftigkeit oder Noch-Nicht-Kompetenz einzugestehen, was ihre eigene Weiterentwicklung unnötig hemmt.
Kompetenz wiederum wird eher dem Erwachsen-Sein wie dem Alter zugeordnet, was zur Folge hat, dass vorhandene kindliche Kompetenz im Großen und Ganzen meist völlig übersehen und schon gar nicht erwartet wird.
Das Problem der Dualität der Rollen
Muße hingegen wird als eine Art Gegenpol zur Arbeit angesehen, was im Bereich der Pädagogik zu der etwas absurden Situation führt, dass Lehrer während der Arbeitszeit ein Bedürfnis nach „aktivem Lehren“ haben – und Lehren für gewöhnlich einen zu Belehrenden braucht. Daher muss der Schüler in der Arbeitszeit des Lehrers eben auch arbeiten – und das relativ unabhängig vom tatsächlichen Nutzen für den Schüler. Anders ausgedrückt: Die den ersten zwei heilsamen Erfahrungen verwandten Rollen bedingen sich gegenseitig. Es braucht einen Schüler für einen Lehrer, oder er ist nur ein verwirrter Mensch, der mit sich selbst zu reden scheint. Derjenige, der die Erfahrung der Kompetenz sucht, in dem er lehren möchte, braucht also den Bedürftigen als Gegenpart, um sich selbst eine heilsame Erfahrung schenken zu können. Die einfachste Möglichkeit, auch die dritte heilsame Erfahrung machen zu dürfen, ist es, auf Menschen zu treffen, die diese selbst aushalten, ohne in die erste oder zweite zu rutschen (Bedürftigkeit oder Helfen-Müssen).
Wenn ich nun allen Besuchern der Institution, in der ich arbeite, diese drei heilsamen Erfahrungen ermöglichen möchte, so muss ich mich fragen, ob ich diese drei heilsamen Erfahrungen für mich selbst bereits oft genug gemacht habe, um sie jeweils auch anderen zu ermöglichen. Bin ich kompetent genug, um andere so lehren zu können, dass sie sich ihre Bedürftigkeit erlauben können? Kann ich mir also auch als Erwachsener erlauben, inkompetent zu sein, um einem Kind oder Jugendlichen die Erfahrung der Kompetenz zu ermöglichen, mich zu lehren? Kann ich es aushalten, (auch vor anderen, nicht nur wenn niemand zusieht!) nichts Offensichtliches zu tun, um auch anderen die Erfahrung der Muße zu ermöglichen?
Niklas