Vor mir liegen zwei Folder der beiden Parteien, zwischen denen ich mich bis zum Sonntag zu entscheiden habe: den Grünen und der Piratenpartei. Der Partei, zu der mir die Logik rät, und der Partei, deren Forderungen einen Traum verkörpern, den ich fast nicht zu träumen wage.
Die Vernunft
Die Grünen stellen die Vernunftsvariante dar. In einem System, das nicht auf große Träume ausgelegt ist, oder gar auf Mitbestimmung, sondern rein darauf, dass einige Menschen über viele andere Menschen bestimmen, stellen sie die für mich mit Abstand vernünftigste Bestimmer-Gruppe. Sie erscheinen fähig, Entscheidungen basierend auch auf ihre langfristigen Auswirkungen für die Zukunft eines Landes zu fällen, wenn sie dabei manchmal auch darauf vergessen, ihre Visionen in der Wirklichkeit zu verankern.
Stellt sich die Frage, welcher Gruppe von Menschen ich es am ehesten zutraue, für andere Menschen ein Land zu lenken, dann wünsche ich mir eine starke Beteiligung der Grünen an den Entscheidungsprozessen. Keine grüne Alleinregierung vielleicht (für eine Verankerung in der Wirklichkeit wäre eine Koalition wünschenswert), aber eine starke grüne Kraft. Es erscheint eine vernünftige Lösung auf den ersten, selbst auf den zweiten Blick.
Der Traum
In Wahrheit jedoch wünsche ich mir mehr. Ich wünsche mir das, was auf dem Flyer der Piraten zu lesen ist, eine Entkriminalisierung etwa von den ohnehin einem großen Teil der Bevölkerung ausgeübten Teilens von Netzinhalten bei gleichzeitiger Findung einer Lösung, die Ersteller dieser Inhalte fair zu entlohnen, einen transparenten Staat, der die Privatsphäre seiner Bürger schützt anstatt seine heimlichen Geschäftchen vor den Augen dieser zu verbergen. Ich wünsche mir den freien Zugang zu Bildungs-Ressourcen für alle, keine Einteilung in Bildungs-Kasten.
Ich wünsche mir ein Recht auf Mitbestimmung, wohin die Steuern und Abgaben, die ich an den Staat und damit das Gemeinwohl abtrete, fließen, und Transparenz, ob dem auch wirklich so ist. Ich wünsche mir echte Mitbestimmung anstatt der Möglichkeit, einmal alle paar Jahre ein Kreuz irgendwo auf einem einige cm² großen Papier machen zu dürfen. Ich wünsche mir, dass ich stets informiert sein kann, wer was wirklich warum entscheidet, dann brauche ich auch keine nichtssagenden Wahlplakate, die Unsummen kosten. Ich wünsche mir so viel, im traurigen Wissen, dass es doch nur fromme Wünsche sein werden.
Ich mag die Idee einer Liquid Democracy. Ich mag die Idee der Mitbestimmung der Bürger, und ich will die Hoffnung nicht aufgeben, dass dieser Traum, diese Vision einer Demokratie eines Tages Realität sein wird, ja dass es in nicht allzu ferner Zukunft als absurd angesehen sein wird, dass einst um die Jahrtausendwende sich Menschen ernsthaft damit zufrieden gegeben haben, alle fünf Jahre mal ein Kreuz zu machen, genauso absurd, wie die Zeit der Sklaverei oder der Hexenverbrennung für viele von uns heute sein mag. Aber laut Wahlprognosen sieht es nicht so aus, als ob diese Zeit bereits anbrechen würde. Die Piraten dümpeln weit unter der 4%-Marke herum.
Die Realität
Aber selbst mit 10% wäre es fraglich, ob die bestehenden Parteien (vielleicht mit Ausnahme der Grünen) mit ihnen etwas anzufangen wüssten. Vielleicht liegt ihre eigentliche Aufgabe und Kraft auch gar nicht im Erreichen von Mandaten, sondern darin, Menschen anzusprechen und sie daran zu erinnern, dass wir irgendwann einmal alle Menschen sein könnten, die gemeinsam, jeder nach seinen Fähigkeiten, die Geschicke dieser Welt bestimmen, alle mit unseren besonderen Gaben und Schwierigkeiten, und dass es tatsächlich möglich wäre. Dass ein jeder Mensch nicht nur ein Recht auf eine Stimme bei einer Wahl haben kann, sondern auch, gehört zu werden, was dieser Mensch tatsächlich zu sagen hat. Dass ein jeder Mensch etwas zu sagen hat.
Die Hoffnung
Politische Gestaltungsmacht kennt mehr Kanäle als einen Nationalrat, der Gesetze erlassen und bei Nichtbeachtung strafen kann. Sie kennt vor allem auch den weit mächtigeren der Überzeugung, der Inspiration. Ein Gesetz zur Förderung der erneuerbaren Energien mag Effekte erzielen, aber Menschen und Unternehmen zu inspirieren, ihrer Kreativität zur Erreichung eines als sinnvoll erlebten Ziels einzubringen, wird langfristig weitreichendere Auswirkungen haben. Politik kann die Rahmenbedingungen für diesen Prozess mitgestalten und erleichtern. Aber schlechte Politik (und damit Rahmenbedingungen) können wirklich inspirierte Menschen nicht aufhalten.
Ich werde Grün wählen. Grün, weil sie mit ihren Mandaten Rahmenbedingungen setzen können, die es den echten Akteuren, Unternehmen und Menschen wie dir und mir, leichter machen, etwas zu verändern, etwas, was die Piraten mit ihrem vermutlich kärglichen Wahlergebnis nicht vollbringen werden können. Aber mein Herz wird den Visionären gehören, die an das Potential in jedem Menschen glauben und ihm den verantwortungsvollen Umgang mit Daten, mit der eigenen Bildung oder gar einem bedingungslosen Grundeinkommen zutrauen, weil dieser Glaube Berge bewegen und zu großen Leistungen inspirieren kann.
Hoffen wir auf gute Rahmenbedingungen, aber lassen wir uns nicht von ihnen aufhalten oder in Vergessenheit geraten, was und wer hier zählt: Unser eigenes Verhalten in jedem Moment erhält oder reformiert die Gesetze, nach denen diese Welt funktioniert weit mehr als jeder Nationalrat. Wir sind der Stillstand. Wir sind der Traum. Wir sind die Verantwortung. Wir sind an der Macht.
Schon vergessen?
Niklas