Vor einigen Wochen war ich in der Nähe von Stuttgart in einer Vorlesung über Theatertherapie. Nachdem es die letzten Vorlesung des Semesters war, wollte der Vortragende „mal was machen, was nicht zur Prüfung kommt, aber für euch interessant sein könnte“ – es wurde interessant. Er hatte, wie er daraufhin erzählte, seine Doktorarbeit über die symbolischen Heilmethoden primitiver Stämme wie den Navajo-Indianern geschrieben und aus dem Vergleich all jener (oft schamanischen) Methoden mit jenen der modernen Therapieformen einige weitreichende Schlüsse gezogen. Was mich besonders verblüfft hat, war, dass sein grundlegender Prozess symbolischen Heilens im Grunde dem entspricht, was ich vor Monaten hier auf diesem Blog über „qualitatives Lernen“ geschrieben habe (wenn auch natürlich ein wenig ausgereifter war).
Der Prozess symbolischen Heilens
Laut dem Vortragenden existieren in der Wahrnehmung eines Menschen zwei Bereiche, die er die „Alltags-Welt“ sowie den „sakralen Bereich“ nennt. In einer Art Kreislauf bewegt sich ein Mensch im Prozess des symbolischen Heilens nun von der Alltags-Welt in den sakralen Bereich und wieder zurück, ähnlich einer Art spirituellen Reise. Etwas zusammengefasst kommen dabei vier Phasen vor:
In allen von ihm untersuchten Therapieformen weltweit gibt es laut dem Vortragenden eine Art „Übergangspersönlichkeit“, die den Prozess begleitet, sei es ein Schamane, ein Therapeut, ein Geistheiler, ein Lehrer, Eltern, ein Freund, Gott oder die Vorstellung von einem oder mehreren Göttern. Wichtig dabei ist, dass diese Übergangs-Persönlichkeit a) das Vertrauen des Menschen genießt und Erfahrung mit jener spezifischen Reise hat.
Üblicherweise versuchen die meisten Menschen sich der drängenden Frage in Phase 1 so lange wie möglich zu entziehen – etwa indem sie sich ablenken. Je älter Menschen werden, desto mehr Strategien erlernen sie, sich nicht mit den in ihnen auf sie wartenden Fragen beschäftigen zu müssen, was zwar das unangenehme Gefühl vertreibt, mit ihm aber auch die Möglichkeit zur persönlichen Weiterentwicklung opfert.
Drogenmissbrauch als scheiternder Prozess symbolischen Heilens
Sehr interessant fand ich auch seinen Hinweis, dass viele (bewusstseinserweiternde) Drogen diesen Prozess unterstützen können, meist jedoch sehr unbeholfen benützt werden. Üblicherweise werden Drogen laut ihm eher benützt, um von der Phase 1 (drängende Frage) direkt in die Phase 3 (Verbundenheit mit einem größeren Ganzen, Frieden) zu kommen. Nur: Ohne die Bereitschaft zum Opfer und damit zur Destabilisierung der eigenen Wahrnehmung entsteht kein Platz für eine Neu-Ordnung jener, und der Drogen damit missbrauchende Mensch wird, anstatt in Phase 4 einzutreten wieder in die Phase 1 zurückgeworfen, die sich – weil sich ja nichts verändert, der Prozess also gescheitert ist – immer noch gleich unangenehm anfühlt – was dazu führt, dass erneut Drogen konsumiert werden, um dem Alltag in jene sakrale Welt zu entfliehen. Zudem würden Drogen oft ohne eine anwesende Übergangspersönlichkeit konsumiert, die den Prozess begleiten und sichern kann.
Hier wird es insofern auch sehr interessant, weil es Rückschlüsse darauf erlaubt, warum manche Menschen eher dazu neigen, Drogen zu nehmen, als andere. In „Wir Kinder vom Bahnhofszoo“ schreibt Christiane F. sehr eindringlich über ihre Entfremdung von der eigenen Familie wie ihren „Freunden“, und dass kaum eine „Übergangspersönlichkeit“ für sie greifbar war, persönliche Entwicklung zu fördern – eine Beobachtung, die sich auch mit zahlreichen anderen von Freunden und Bekannten deckt, die mit Drogen selbst oder über Bekannte zu tun haben, sowie dem Vortragenden dieses TED Talks: Drogenmissbrauch findet vor allem bei jenen Menschen statt, die sich einsam fühlen und gefühlt niemanden haben, dem sie wirklich vertrauen können. Ohne diese Übergangsperson, der ein Mensch vertraut, ist die 2. Phase zu furchterregend – der Mensch verbleibt damit in seiner unangenehmen Situation, ohne einen Ausweg zu finden.
Was Lehrer von dem Prozess symbolischen Heilens lernen können
Wenn wir jeden signifikanten Lernprozess als einen Prozess symbolischen Heilens/Lernens betrachten, so ist die Übergangsperson wohl das, was ich in vielen Artikeln „relativer Meister“ benannt habe: Jemand, der Erfahrung mit der Entwicklung hat, die man selbst gerade durchmachen muss.
Eine weitere Anforderung für signifikantes Lernen ist jedoch auch ein gewisses Gefühl von Grundsicherheit nicht nur gegenüber der Übergangsperson selbst, sondern auch gegenüber den anderen Menschen im „Raum“. Ohne das Vertrauen, dass niemand meine verwundbare Situation ausnützen wird, um mir zu schaden, ist es schwer, sich zu öffnen. Wird dieser geschützte Raum nicht geschaffen und gehalten, führt dies eher zur Tendenz, sich zu „verhärten“, anstatt eine Weiterentwicklung zu fördern.
Die Freiwilligkeit ist ein weiteres Thema. Jemandem dazu zu zwingen, sich zu öffnen, wird sehr schwer in einer vertrauensvollen Atmosphäre möglich sein.
Interessant fand ich auch die Anmerkung des Vortragenden, dass sehr viel davon abhänge, wie kompatibel die Weltbilder der Übergangsperson und jener der den Prozess durchmachenden sind. Ein Stammesmitglied des Navajo-Stamms wird mit einem Navajo-Ritual mehr anfangen können als ein durchschnittlicher Österreicher, mit einer Psychotherapie wohl dafür eher weniger. Dies ist vor allem auch für freie Schulen essentiell: denn die (meist unhinterfragt bleibenden) Weltbilder der Beteiligten, die natürlich auch die Bildungsvorstellungen mitprägen, haben einen großen Einfluss darauf, ob eine pädagogische Methode wirksam sein kann oder nicht.
Offensichtlich wurde auch in Studien herausgefunden, dass die Meinung der Bezugsgruppe eines Menschen über die Therapiemethode einen großen Einfluss darauf hat, ob eine Heilungs-Methode wirkt. Übertragen auf eine Schule hat damit die Meinung der Eltern über die Art des Unterrichts eine massive Auswirkung darauf, ob das Kind im Unterricht signifikant lernen wird. Ein Grund mehr, Elternarbeit sehr ernst zu nehmen.
Und letztlich – was für mich besonders bedeutsam war: Symbole funktionieren mit Hilfe des Placebo-Effekts, mit dem Glauben, der ihnen anhaftet. Ich habe mich bisher immer gesträubt, anzuerkennen, dass ein gewisses Auftreten oder bestimmte Kleidungsstücke irgendetwas damit zu tun haben sollen, ob man ein guter Lehrer ist. Wenn man diese Aspekte jedoch in ihrer Symbolwirkung betrachtet, macht diese Ansicht plötzlich doch sehr viel Sinn. Wenn selbst in gesundheitlichen Studien eine große Anzahl an Heilmethoden erfolgreich auf dem Placebo- (bzw. wohl genauer gesagt auf einem symbolischen, einen Glaubens-) Effekt beruhen, kann davon ausgegangen werden, dass auch gewisse gesellschaftliche Symbole wie einen Anzug zu tragen eine gewisse psychologische Wirkung haben. Es reicht offensichtlich, wenn genügend Menschen der eigenen Bezugsgruppe an bestimmte Symbole glauben, damit sie wirksam werden. Immer wieder liest man ja z.B. in der Zeitung von Menschen, die sich als Polizisten verkleiden und damit Autofahrer anhalten und ausnehmen. Symbole haben offensichtlich eine enorme Macht, die es sich zu erforschen lohnt.
Das Thema ist unglaublich interessant – ich hoffe, dazu in nächster Zeit noch mehr berichten zu können. Wer dazu mehr Informationen, Erfahrungen, Fragen oder sonstiges hat – ich freue mich über jede Rückmeldung.
Niklas