Immer wieder war mir in meiner Tätigkeit als Nachhilfelehrer aufgefallen, dass eines der grossen Schwierigkeiten meiner Schüler diejenige war, einen Sinn in dem zu lernenden Stoff zu entdecken. Sie waren nicht etwa hier (und ihre Eltern zahlten nicht deswegen Unsummen an das Nachhilfe-Institut), weil sie geistig zu minderbemittelt gewesen waren, den Satz des Pythagoras zu beherrschen, sondern sie waren mündig genug, den Sinn für ihr eigenes Leben in Frage zu stellen.
„Weil es im Lehrplan steht“ oder „weil du es später noch brauchen wirst“ schien diese Schüler nicht davon abzuhalten, weiterzufragen, ob denn alles, was im Lehrplan stehe, auch sinnvoll sei, oder ob sie es später tatsächlich noch brauchen würden. Ob denn ich als Lehrer es jemals ausserhalb der Schule brauchen hätte können? Interessanterweise schien es meinen Schülern leichter zu fallen, etwas zu erlernen, wenn ich offen zugab, dass ich einen bestimmten Lernstoff, der sie erwartete, noch nie in meinem Leben tatsächlich gebraucht hatte und wohl auch nicht mehr brauchen würde. Viktor E. Frankl würde es wohl die Möglichkeit nennen, im Leiden Sinn zu finden.
Kraft durch Sinn
Als ich heute die letzte Seite seines Buches „Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn“ gelesen hatte, erschien nun vieles, was ich vor diesem Buch eher intuitiv geahnt als sicher gewusst hatte, tieferen Sinn zu ergeben. In jenem Buch schreibt er darüber, dass die Suche nach einem Sinn im Tun für ihn das menschliche Grundbedürfnis schlechthin darstellt, und nennt drei Möglichkeiten, diesen Sinn zu finden: die Liebe, das Werk und das Leiden. Sinn hat für ihn immer eine transzendente, eine über den Mensch selbst hinaus ausgerichtete Komponente, und er leitet sie aus der Gewissheit des Sterben-müssens ab.
Der Tod, der jeden Menschen zu seiner Zeit erwartet, ist die Grundbedingung für die Verantwortung. Gäbe es keinen Tod, würde es dem Menschen möglich sein, seine Handlungen unendlich in die Zukunft zu schieben. Der Tod lässt einen jeden Moment zum potentiell letzten Moment werden, setzt einen Schlusspunkt der Einflussmöglichkeiten des Einzelnen und versiegelt somit sein Vermächtnis an die Welt. Er beschreibt dieses Vermächtnis als das, was von uns auch nach unserem physischen Tod weiter existieren kann, das, was uns gross macht, was uns über uns selbst hinaus wachsen lässt. Es ist der Gegenentwurf zum rein egoistisch handelnden Homo Economicus.
Verantwortung bedeutet Antworten geben, sich zu entscheiden
Frankl betrachtet einen jeden Moment als eine Frage, die uns die Welt stellt, und unser Handeln in jedem Moment als Antwort auf diese Frage, die in die Ewigkeit eingeht. Verantwortung ist somit ein Antwort-Geben, ist eine Entscheidung, in jedem Moment. Selbst im Umfeld beinahe totaler Machtlosigkeit, wie es in Konzentrationslagern versucht wurde, stellt ein jeder Moment Fragen an den Einzelnen, deren Beantwortung Möglichkeiten zur Verantwortung offen lässt. Frankl schreibt, dass die Sinnfindung in vielen Fällen den für ihn ausschlaggebenden Unterschied zwischen Überlebenden und Aufgebenden gemacht hat.
Der Mensch im Schrägriss
Frankl bietet eine interessante Metapher zu den Bemühungen der Wissenschaft, das menschliche Verhalten zu erklären (und zu beeinflussen), an: er stellt die Behauptung auf, dass die Wissenschaft immer nur mit Projektionen von mehrdimensionalen Objekten auf geringere Dimensionen arbeiten und damit notwendigerweise nie den ganzen Menschen abbilden kann, weil dazu eine über-menschliche Perspektive nötig sei. Die Erkenntnisse, die wir beispielsweise aus dem Behaviorismus über menschliche Trainierbarkeit haben, mögen für sich „funktionieren“, aber es beschreibt nicht menschliches Verhalten an sich, klammert immer wichtige Eigenschaften, vor allem aber die der menschlichen Ver-Antwortung, aus. Der Mensch mag trainierbar sein, aber er ist nicht nichts-als trainierbar.
Die Lehrpläne einer Schule inhaltlich so umzuschichten, dass sie näher an den tatsächlichen Interessen der Schüler anknüpfen, mag ein erster Schritt sein, und doch verschleiert es das Grundproblem, dass nämlich ein jeder allgemeiner Lehrplan notwendigerweise seine Schüler umso mehr aus seinen Überlegungen ausklammert, desto allgemeiner er gehalten wird, notwendigerweise eben eine Projektion der Wirklichkeit sein muss. Aber kann man es Schülern zumuten, selbst subjektiv sinnvolle Tätigkeiten auszuwählen?
Schüler besitzen offensichtlich die Fähigkeit, zwischen für sie subjektiv sinnvollen und subjektiv sinnlosen Tätigkeiten zu unterscheiden, ansonsten würden sie nicht über sinnlose Tätigkeiten klagen können. Dies bedeutet nicht, dass eine Führung und Begleitung durch Andere nicht sinnvoll sein kann, es bedeutet lediglich, dass diese Führung sich auf einer anderen, gewaltlosen Basis der Interaktion wohl oftmals sinnvoller einsetzen liesse.
Sinn-lose Gewalt
Hannah Arendts Aufsatz über den qualitativen Unterschied zwischen Macht und Gewalt verdanke ich die Idee, dass Gewalt immer Mittel benötigt, während Macht auf freiwilliger und oft spontaner Leihung von Unterstützung basiert. Gewalt neigt dort zu entstehen, wo diese freiwillige Unterstützung einer Sache verloren geht, und die angeblichen „Machthaber“ gewisse Mittel einsetzen, ihren Willen, nicht mehr denjenigen ihrer Unterstützer, durchzusetzen. Mittel wie Waffen, aber auch Indoktrination, schlechten Noten oder einer Belohnung, wie wir sie in so mancher Schule vorfinden können.
Wenn Frankl Recht behält und Sinn nicht objektiv erzeugt, sondern nur subjektiv gefunden werden kann und auch Arendt, wenn sie Macht als freiwillige Unterstützung definiert, so erscheinen die Aussagen meiner Nachhilfeschüler berechtigt. Wenn sie sich durch ein Arsenal schulischer Gewalt (im Sinne von Mittel) gezwungen sehen, etwas zu tun, dem sie keinen Sinn abgewinnen können, ist es keine grosse Überraschung, dass sie Schwierigkeiten damit haben, dabei etwas zu lernen. Umgekehrt formuliert lässt sich aufgrund der Intensität der „zur Motivation nötigen“ Mittel ablesen lässt, wie genau die Lehrplanziele beziehungsweise die Umsetzung durch den Lehrer den Bedürfnissen der Schüler nach sinnvollem Tun entspricht.
Wenn wir dieses offensichtlich vorhandene Bedürfnis unserer Schüler nach Sinn ernst nehmen, stellt sich die Frage, wie eine Begleitung, die nicht auf die erwähnten Gewaltmittel, sondern auf tatsächlicher Macht und natürlichen Autoritäten aufbaut, aussehen könnte. Vermutlich wäre sie in ihrer Reinform utopisch. Aber eine Utopie ist nicht dazu da, 1:1 erfüllt zu werden, sondern dazu, als Vision und Wegweiser zu dienen in den zahlreichen kleinen Entscheidungen, die zu ihr hin oder von ihr weg führen. Mit jeder dieser Entscheidungen antworten wir aufs Neue auf die eine Frage, die das Leben stellt und deren Beantwortung bis zu unserem Tode nie abgeschlossen sein wird: Warum?
Schülern ihr eigenes „Darum“ zu belassen, könnte einige unserer alltäglichen Gewaltmittel in der Schule überflüssig machen.
Niklas