Gestern Abend stiess ich auf der Suche nach einem interessanten Film auf den Klassiker „Der Klub der toten Dichter“ (Dead poet’s society). Einer der Hauptakteure, ein Lehrer namens Keating, verkörpert für mich in vielen Bereichen einen sehr guten Bunterricht. All jenen, die den Film selbst noch nicht gesehen haben, würde ich an dieser Stelle empfehlen, nicht weiterzulesen, bis sie den Film unvoreingenommen auf sich wirken lassen konnten. Einige Passagen in diesem Text mögen ansonsten grosse Momente dieses Films vorwegnehmen, und dies wäre schade. Ich sollte anführen, dass ich den Film in englischer Sprache gesehen habe, die deutsche Version mag von der englischen in einigen Stellen differieren.
Ich möchte aus dem Fundus an sicherlich wichtigen Aussagen des Filmes drei herausgreifen und besonders beleuchten. Das Lehrziel Keatings, seine Lehrmethoden und den systemischen Widerstand.
Das Lehrziel
Keating, der neue Lehrer für Literatur, bleibt nicht bei seinem ihm aufgetragenen Lehrziel der Repetition von Wissen, sondern transzendiert es hin zu einer Öffnung des Geistes. Für ihn ist Literatur nicht tote Materie, tote Worte toter Menschen, sondern ein Werkzeug zur Transzendierung des Selbst. „No matter what anybody tells you, words and ideas can change the world”, meint er eingangs, und er glaubt selbst an die Wahrheit dieser Aussage, weil Worte und Ideen seine eigene Welt für ihn verändert haben und verändern. Er hat erkannt, dass Literatur für ihn ein Schlüssel für Autonomie, für Selbstwerdung und Transzendenz sein kann, und er hat den inneren Drang, diese Erkenntnis auch anderen zugänglich zu machen.
Die Methoden
Keating lässt in einer Szene einige seiner Schüler vor den anderen schlendern. Die Zuschauer beginnen zu klatschen, die Gehenden beginnen, ihren Rhythmus anzupassen und im Gleichschritt zu schreiten. Er stoppt und erklärt (während er Poeten zitiert), dass Menschen den Drang zur Anpassung in sich haben, vor allem, wenn sie beobachtet werden. Er weist auf die anfängliche Unterschiedlichkeit im Gang der Gehenden hin. Und er ruft alle dazu auf, ihren eigenen Weg zu gehen, in eigener Geschwindigkeit. Einer der Schüler verbleibt still auf seinem Platz. Keating lädt ihn ein, es doch den anderen gleich zu tun, was er denn vorhabe? Der Schüler antwortet: „Exercising the right not to walk.“
Eine jede von Keating’s Methoden ist darauf ausgerichtet, Individualität zu fördern und von Anpassungsdruck zu befreien. Er versucht, das Individuelle aus jedem Schüler zu kitzeln, versucht, dem Schüler die Angst vor diesem Ausdruck, die Angst vor den Blicken und Kommentaren der anderen zu nehmen. Er nützt seine Autorität zur Ermächtigung des Einzelnen, in dem er beispielsweise das Lachen der anderen abstellt, das diesen Ausdruck behindert oder Schüler in ihren zaghaften Versuchen ermutigt: „Boys, you must strive to find your own voice. Because the longer you wait to begin, the less likely you are to find it at all. Thoreau said, ‚Most men lead lives of quiet desperation.‘ Don’t be resigned to that. Break out!“
Als sich die Schüler gemeinsam an geheimen Orten zusammenfinden, um Literatur zu lesen, entdecken sie ihre transzendierende Kraft für ihr eigenes Leben. Der Samen ist gepflanzt, der Funke übergesprungen. Das Lehrziel scheinbar erreicht.
Der Widerstand des Systems
Doch Schüler bleibt Schüler, in Abhängigkeit von Eltern und Schule. Bewusstsein entsteht, Bewusstsein über die eigene Stellung in einem unterdrückenden System. Warum sind sie etwa von Frauen getrennt untergebracht? Ermutigt von dieser mächtigen transzendierenden Kraft der Worte geht ein Schüler auf direkte Konfrontation mit dem System, dem Rektor der Schule. Doch das „Imperium“ schlägt zurück, bedroht die Schüler mit Rauswurf aus der Schule und Keating erklärt ihnen, dass ihre Macht relativ sei: „There’s a time for daring and there’s a time for caution, and a wise man understands which is called for.“
Im weiteren Verlauf des Filmes sehen wir einige Schüler ihr eigenes Leben durch die Macht der Worte transzendieren, Selbstbewusstsein bekommen, sich emanzipieren. Sie erfahren die Macht von Worten am eigenen Leib, lernen nicht über Worte sondern mit und durch Worte. Und die verwunderte, fast verärgerte Frage des Rektors in einem Gespräch mit Keating („Free thinkers at 17?“) wird durch eine wunderschön gestaltete Endszene beantwortet. Wie diese Antwort, die der Film anbietet, zu interpretieren ist, sei ganz im Sinne des Bunterrichtens dem Betrachter überlassen.
Niklas