In den letzten Wochen habe ich im Unterricht einer 4. Klasse Volksschule in Deutsch wieder einmal mit dem Test-First-Prinzip aus der Informatik (-> z.B. JUnit-Tests) gearbeitet, einerseits im Bezug auf Schularbeiten, andererseits auch auf das Erlernen bestimmter Stoffbereiche (vor allem Sprachbetrachtung). Das Prinzip an sich ist sehr simpel und kriterienbasiert: bevor ich mir als Lehrer überhaupt Gedanken darüber mache, wie ich meinen Unterricht gestalte, überlege ich mir, wie ich möglichst objektiv messen kann, ob ein Schüler ein Stoffgebiet bereits beherrscht, etwa in Form einer kleinen Überprüfung oder bei Schularbeiten beispielsweise anhand eines Kriterienbogens. Das Bestehen der so entstandenen Überprüfung stellt damit das Kriterium dar, ob mein Unterricht erfolgreich ist. „Erfolgreich“ bewertet dabei jedoch nicht, ob ein Schüler durch meinen Unterricht die erforderte Fähigkeit beherrscht. Kann er etwas vorher schon oder lernt er es auf anderem Wege, ist das für mich genauso in Ordnung, solange er eine Fähigkeit nachweisbar beherrscht.
Einige Vorteile des Test-First-Prinzips
Auf den ersten Blick mag dieser Zugang nicht sonderlich aufregend erscheinen, allerdings bietet er immense Vorteile und Möglichkeiten. So ist es etwa möglich, „Blaupausen“ eines Messinstruments durchzudefinieren, anhand jener man als Lehrer jederzeit und ohne großen Aufwand weitere Überprüfungen erstellen kann, die dann in etwa gleich schwer sind. Schüler, die den Test bereits vor dem Unterricht des Lehrers bestehen, können die Zeit, die für den Unterricht dieses Stoffgebiets vorgesehen ist, anderweitig nützen, womit ein mehr-als-erwartet-Können tatsächliche Vorteile für den Schüler bringt. Es ist ohne großen Aufwand möglich, Schüler Überprüfungen wiederholen zu lassen, was für den Schüler motivierend sein kann, sich noch einmal einem Stoffgebiet zu widmen. Anhand der vom Schüler gemachten Fehler beim Versuch den Test zu bestehen kann der Lehrer dann ableiten, wie er seinen Unterricht gestalten sollte, um jenen Schülern zu helfen, die noch Schwierigkeiten haben. Man kann die Blaupausen mit Kollegen und Kolleginnen austauschen und spart somit dem ganzen Kollegium Arbeit – und man kann sie mit Vorgesetzten absprechen und als Kriterien für die Bewertung der Qualität des Unterrichts verwenden: wenn ein Vorgesetzter eine Blaupause als Kriterium für das Verstehen eines Stoffs akzeptiert, kann ein Lehrer davon ausgehen, dass sein Vorgesetzter zufrieden sein wird, wenn alle seine Schüler den jeweiligen Test auch bestanden haben.
Regelmäßige (!) Ausprobier-Schularbeiten
Am beeindruckendsten fand ich die Erfahrungen dieses Zugangs in Bezug auf die Schularbeiten in Deutsch. Ich habe bis zum Ende der zweiten Schulwoche einen Kriterienbogen für die erste Deutsch-Schularbeit erstellt und die Schüler dann jeden Freitag eine Deutsch-SA unter Schularbeiten-Bedingungen schreiben lassen. Anschließend habe ich sie anhand des Kriterienbogens korrigiert und den Schülern am Montag darauf zurückgegeben, unter Betonung der Tatsache, dass es sich um eine „Ausprobier-Schularbeit“ handelt und diese keine wie auch immer geartete Auswirkung auf die tatsächliche D-Schularbeiten-Note haben wird – sie dient rein zur Einübung der für die Schüler neuen Schularbeits-Situation, zur Verfeinerung des Kriterienbogens sowie des Feedbacks für die Schüler, wie sie in einer tatsächlichen Schularbeits-Situation zum derzeitigen Zeitpunkt bestehen würden.
Beim ersten Versuch der Ausprobier-Schularbeit waren die Schüler ganz schön nervös, und für einige war es wohl auch ungewohnt, dass sie darauf vertrauen konnten dass es tatsächlich keine Auswirkungen auf die Endnote haben würde selbst wenn sie versagen sollten. Ab dem 2./3. Mal bekam ich von einigen Schülern das Feedback es würde ihnen sehr helfen, die Angst vor der richtigen Schularbeit abzubauen, und beim letzten Mal war es bereits keine große Aufregung mehr, unter Schularbeitsbedingungen zu schreiben. Besonders interessant war jedoch für mich die Statistik der Ergebnisse: Ausnahmslos alle Schüler wurden – sichtbar anhand der Punkteergebnisse – mittelfristig gesehen massiv besser. Nach dem ersten Versuch bekam ich die Rückmeldung von einer Mutter, ein bestimmtes Kriterium für die Benotung sei noch unklar, was ich verbessert habe, ansonsten blieb der Kriterienbogen die nächsten Versuche über gleich und ich habe nichts am objektiven Beurteilungs-Schema verändert: innerhalb weniger Wochen wurden alle Schüler nachweisbar besser. Das zu hören war – vor allem auch für die anfangs „schwächeren Schüler“ – offensichtlich sehr motivierend. Vermutlich hat auch mein übriger Unterrichts-Stil zu dieser Entwicklung beigetragen, aber die häufige Wiederholung der gleichen Test-Situation macht die Entwicklung auch für die Kinder konkret sichtbar und motiviert zusätzlich.
Falls jemand den Schularbeiten-Kriterien-Bogen verwenden möchte, kann er hier: beurteilung-d-sa-1-2-1 im .docx-Format heruntergeladen werden. Er ist ausgelegt auf die erste Schularbeit einer Bildgeschichte, kann aber natürlich jederzeit (am einfachsten indem die Bildgeschichte-spezifischen Kriterien durch passende für die jeweilige Textsorte ersetzt werden, so dass die Punkte an sich gleich bleiben) angepasst werden. Der Rechtschreibungs-Quotient kann auch auf jeden anderen Text angewendet werden und dient bei regelmäßiger Berechnung einer ungefähren Bestimmung der Entwicklung des Rechtschreibbewusstseins. „Ungefähr“ deswegen, weil meine Schüler mit zunehmendem Vertrauen in das fehlertolerante Umfeld auch schwierigere Wörter schrieben und damit wieder potentiell mehr Fehler machten. Trotzdem ist die relative Berechnungsart durchaus hilfreich, weil sie eine Vergleichbarkeit auch mit Texten unterschiedlicher Länge ermöglicht.
Kritische Aspekte des Test-First-Prinzips
Mir ist von verschiedenen Seiten gesagt worden, was ich hier versuche sei schädlich für die Kinder oder verlorene Unterrichtszeit, weswegen mir angeraten worden ist, den Schülern beispielsweise keine konkreten Zahlen mehr bei ihren Ausprobier-Schularbeiten rückzumelden, weil dies bei schwächeren Schülern dazu führen würde, dass sie sich bloßgestellt fühlen. Also habe ich – unter 4 Augen, um ehrliche Rückmeldungen zu bekommen, bei den „schwächeren“ Schülern nachgefragt, und sie verneinten, dass das der Fall sei, bzw. wollten sie, als ich ihnen erklärte, ich dürfe ihnen nun keine konkreten Zahlen mehr dazuschreiben, dass ich ihnen die Zahlen (die ich für meine Statistik weiterberechnet habe) „ins Ohr sage“ – was ich aufgrund einer Weisung, an die ich mich auch halten wollte, nicht gemacht habe.
Meine Theorie (!) dazu ist die Folgende: gerade schwächere Schüler werden oft – mit durchaus gutherziger Intention eines Lehrers – vor Frusterlebnissen beschützt, indem der Unterricht so gestaltet wird, dass sie auch Erfolgserlebnisse haben und sich den für sie zu schweren Aufgaben gar nicht mehr stellen müssen. Nur: damit wird dem Schüler im Grunde gleichzeitig oft auch die reale Möglichkeit genommen, aus seinem „Ich kann sowieso nichts“-Denken auszusteigen. Wenn er selbst glaubt, nichts zu können, und auch seine Familie und sein Lehrer ihn so behandelt, wie soll er die geistige Vorstellung entwickeln, dass er besser werden könnte? Es ist zugegebenermaßen eine Gratwanderung, Schüler der Realität ihrers Könnens auszusetzen, und wenn es nicht geschafft wird, eine fehlertolerante und entwicklungsfördernde Atmosphäre zu schaffen, kann es ziemlich nach hinten losgehen. Nur: meine Schüler – und gerade die Schwachen – sind sichtbar über sich selbst hinausgewachsen, was das Selbstvertrauen betrifft und was ihre Leistungen betrifft. Mir geht es nicht darum zu sagen, dass ein solcher Zugang in jeder Situation sinnvoll sein mag, sondern aufzuzeigen, dass es funktionieren kann.
Ein Einwand, mit dem ich konfrontiert wurde, als ich versuchte aufzuzeigen, dass es funktioniert, war, dass ich gerade schwächere Schüler massiv unter Druck setzen würde, sinngemäß: „Ja es mag funktionieren, doch zu welchem Preis?“. Nun, tatsächlich glaube ich, dass ich mit dem Test-First-Prinzip sogar Druck herausnehmen kann. In einem normalen Unterrichtszugang ist unklar, wie viel man als Schüler noch lernen muss, um eine gute Note zu bekommen, mehr ist zwar gefühlt besser aber es ist als Schüler oder Elternteil schwer einzuschätzen, wann es „genug“ ist. Bei meinem Zugang ist das sehr klar ersichtlich: Mehr als die maximale Punktzahl ist auch mit noch so viel Bemühen nicht zu erreichen, und da die einzelnen Überprüfungen so ausgelegt sind, dass ein Bestehen gut genug auf die nächste Schulstufe vorbereiten sollte (bzw. dies anhand der Blaupausen überprüfbar ist, ob die Überprüfungen realistischerweise auch das messen, was sie messen sollen oder etwas übersehen/zu wenig schwer definiert wurde), können auch Eltern, die ansonsten dem Kind Druck machen zu müssen glauben, sich eher entspannen. Ich selber habe meinen Schülern in Bezug auf Leistungen nie Druck gemacht: ich habe ihnen rückgemeldet, wo sie anhand des Messinstruments stehen, habe ihnen mitgeteilt wo sie sich punktetechnisch am effektivsten verbessern können, aber ob sie sich entscheiden, eine Überprüfung mit Aussicht auf eine Punkteverbesserung zu wiederholen, war von meiner Seite aus den Schülern überlassen.
Abschließend möchte ich noch auf einige weitere mögliche Kritikpunkte des Zugangs zu sprechen kommen, die mir begegnet sind. Ich glaube, dass so ein Vorgehen nur dann funktionieren kann, wenn es gelingt, eine fehlertolerante Atmosphäre zu schaffen, und das ist nicht jedermanns Sache. Es begünstigt ein schülerbasiertes Lernen, also einen Unterricht, in dem Schüler aktive Subjekte ihres Lernprozesses sind, und es hat wohl viel mit der Persönlichkeit des Lehrers zu tun, ob ihm dies genehm ist. Nach außen kann es aussehen, als würde der Lehrer „nichts“ oder „zu wenig“ unterrichten, obwohl der Lernerfolg der Schüler außerordentlich hoch ist, und dies mag zu Schwierigkeiten oder Neidsituationen mit Vorgesetzten oder Kollegen führen.
Mögliche Konsequenzen/Schlussfolgerungen
Das „gefährlichste“ an dem Zugang ist wohl, dass er eine sehr einfache Möglichkeit darstellt, Schüler zu handelnden und hinterfragenden Subjekten werden zu lassen. Dadurch, dass Schüler im Grunde vor einer Überprüfung wissen, was sie können müssen und sich selbst jederzeit an der Aufgabe messen können, sind sie nicht mehr zwingend auf den Unterricht des Lehrers angewiesen, um die Überprüfung zu bestehen. Sie können dem Unterricht des Lehrers folgen, aber auch genauso mit Mitschülern lernen, ein Buch darüber lesen, selbst üben – und alle diese Methoden können zur Erreichung der vollen Punktzahl bei der Überprüfung führen, weil verschiedene Lösungsmethoden erlaubt sind und nicht nur die vom Lehrer unterrichtete. Ich bin überzeugt, dass zumindest einige der „schlechten Schüler“ einfach Pech hatten, eine Lehrerpersönlichkeit gegenüberzuhaben, die zufällig einen Unterrichtsstil benützt der ihnen nicht entspricht. Das ist kein Vorwurf an einzelne Lehrer, sondern eine Tatsache: auch wie ich unterrichte und erkläre, entspricht nicht allen Schülern gleich gut. Nur: wenn ich das weiß, ist es für mich die logische Folge, eine Unterrichtsorganisation anzustreben, in der Schüler, denen ich nicht so gut entspreche, die reale Möglichkeit haben, sich anderweitig zu helfen. Es bedeutet, den impliziten Anspruch an sich selbst aufzugeben, für alle mir anvertrauten Kinder der „perfekte“ Lehrer sein zu müssen – ein Mensch zu sein, mit Stärken und Schwächen, der sich auch bewusst ist darüber und diese nicht hinter einer Fassade der Perfektion verstecken muss.
Ich kann hier an dieser Stelle nur zusammenfassend über die Rückmeldungen der Kinder und Eltern schreiben, die direkt an mich herangetragen wurden, möglicherweise mag es andere Ansichten der Bewertung des Prinzips geben, die nur nie bei mir angekommen sind. Die Kinder waren bis auf eine Ausnahme von der ich weiß (von der ich allerdings nur durch Zufall indirekt erfahren habe) begeistert davon und irritiert, als ich die Umsetzung einschränken musste, die Eltern waren ebenso sehr zufrieden, vor allem mit den Ausprobier-Schularbeiten, da sie merkten, dass es den Kindern half, ihre Nervosität abzulegen und die sichtbare Verbesserung sehr motivierend für sie war. Die einzig wirklich negativen Rückmeldungen waren schulintern und – meines Erachtens – eher in Form von Befürchtungen geäußert, die (schließend aus den Informationen, die ich zur Verfügung habe/hatte) sich nicht bestätigt haben.
Das Prinzip an sich hat sich für mich nun an verschiedensten Schulen und unter verschiedensten Bedingungen als sehr förderlich für die Entwicklung der mir anvertrauten Schüler bewährt – unter der Voraussetzung, dass man wie ich auch die Förderung der Selbstständigkeit und des kritischen/reflektierenden Denkens als etwas durchaus Positives betrachtet sowie für eine Atmosphäre der Fehlertoleranz sorgen kann.
Niklas