Das Problem der Aktivierungsenergie

(Letztes Update von Niklas Baumgärtler am 26.5.2021)

Das folgende Modell ist so simpel wie universal, dass es sich auf beinahe alle Lebensbereiche anwenden lässt, wo es um Änderungen des Verhaltens geht. Im Grunde lässt es sich folgendermaßen zusammenfassen:

Um energiefressende Verhaltensweisen oder Umstände zu verändern, ist für eine gewisse Zeit der Einsatz zusätzlicher Einsatz von Energie notwendig, bevor die Veränderung sich positiv auf die Energiebilanz auswirken kann. Die so eingesetzte Aktivierungs-Energie kann also als eine Art „Investition in die Zukunft“ betrachtet werden.

Einige Beispiele

Um das Konzept ein wenig besser zu verdeutlichen, will ich es mit Beispielen aus verschiedensten Lebensbereichen untermauern:

Mein Mitbewohner spielt seit einiger Zeit mit dem Gedanken, mit dem Rauchen aufzuhören, empfindet es allerdings als „zu anstrengend“. Gleichzeitig fällt ihm sehr wohl auf, dass seine Kräfte durch das Rauchen empfindlich geschwächt sind und es seinem Körper zu schaffen macht. Auf den Moment betrachtet ist die Entscheidung, nicht zu rauchen, anstrengender als die Entscheidung, weiterzurauchen, langfristig betrachtet würde er – auch laut seiner eigener Aussage – davon profitieren, aufzuhören. Ein ähnliches Muster findet sich bei den meisten Süchten wieder. So beschreibt etwa auch Christiane F. in „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ ihren ersten Entzug sinngemäß als „einige Tage Leiden“, bevor es besser und leichter wurde.

Noch alltäglicher wird für viele meiner Leser die Entscheidung sein, rauszugehen in die Sonne oder Sport zu treiben. Wenn ich gemütlich in meiner Wohnung sitze, ist es manchmal doch eine Willensanstrengung, vor die Tür zu gehen. Bin ich dann erst einmal draußen und bewege mich, wundere ich mich, überhaupt darüber nachgedacht zu haben, drinnen zu bleiben. Ähnlich die Entscheidung, bestimmte Speisen und Gerichte zu bestimmten Zeitpunkten zu essen – rein ausgehend von der Lust am Schmecken könnte man ja den ganzen Tag essen, aber langfristig sinnvoll wird es im Alltag nicht sein.

Und letztlich ein Beispiel aus dem Schulalltag: ich kann mir als Ziel vornehmen, tagtäglich die mir anvertrauten Schüler in eine gewisse Ruhe zu bringen und mit ihnen durchzuarbeiten, was ich für richtig halte. Ich kann aber auch versuchen, so in sie zu „investieren“, dass sie langfristig selbstständiger an ihrer eigenen Weiterentwicklung arbeiten können und mich immer weniger brauchen. Die zweite Variante kann, wie ich nun bereits an mehreren Schulen erlebt habe, gerade in der Anfangsphase sehr an den eigenen Kräften zehren, aber sie lohnt sich üblicherweise nach einigen Wochen.

Das Problem der dunklen Nacht des Glaubens

Paulo Coelho hat in einem seiner zahlreichen Bücher einen Begriff geprägt, den ich wunderschön finde: die dunkle Nacht des Glaubens. Er beschreibt damit die Situation, in der unser Glauben an einen langfristigen Nutzen eines kurzfristigen Aufwandes auf die Probe gestellt wird. So verbringt die Heldin des Buches eine Nacht alleine (in einem Wald, wenn ich mich recht erinnere), bekommt Angst, will die Prüfung, die ihr von einem Magier gestellt wurde, abbrechen, schläft dann irgendwann doch erschöpft ein, um am nächsten Tag gereifter zu erwachen. Sie hat ihrem Meister (Magier) vertraut, obwohl ihr momentanes Erleben ihr geraten hat, die Situation zu verlassen, und wurde belohnt.

Das Problem der dunklen Nacht des Glaubens ist allerdings, dass die Nacht oft zu furchterregend wirkt oder der Glaube an den Morgen danach zu schwach ist, um sie durchzumachen. Der Raucher fängt doch wieder an zu rauchen, der Heroin-Abhängige wird rückfällig, der Übergewichtige stopft sich doch nachts heimlich wieder voll. Oder in der Schule: der Lehrer zweifelt doch am langfristigen Nutzen seines zusätzlichen Energieaufwandes und hakt die Öffnung des Unterrichts als „ausprobiert, funktioniert nicht“ ab. Möglicherweise muss ein Lehrer, der sich aufmacht, einen auf langfristiges Wachstum seiner Schüler ausgerichteten Unterricht zu erteilen, nicht nur mit seinen eigenen Zweifeln kämpfen, sondern auch noch jene der Eltern, Kollegen oder Vorgesetzten mittragen, die jenen Glauben an das Mögliche als Irr-Glauben wahrnehmen und den Häretiker dementsprechend bekämpfen und zum rechten Glauben zurückzuführen gedenken. Es handelt sich wohl im Grunde um denselben Prozess, den ein Raucher in einer Gruppe von – ebenso rauchenden – Freunden durchmacht, wenn er mit dem Rauchen aufhören möchte: er muss bereit sein, zusätzlich zu den Schwierigkeiten des Aufhörens selbst noch ein hohes Maß an Gruppendruck auszuhalten, der ihn in eine andere Richtung zu drängen versucht, als er es möchte. Nicht wenige scheitern.

Eine Trennung von Staat und Religion in der Schule?

Paulo Freire, einer meiner großen Helden der Pädagogik, hat in seinen Büchern geschrieben, es gäbe keine apolitische Bildung – wer sich als apolitisch bezeichnet, unterstütze nur das vorherrschende System. Was er nicht geschrieben hat, aber meines Erachtens – nach längerem Nachsinnen über dieses Thema – ebenso zutrifft, ist dass es keine nicht-spirituelle Bildung geben kann. Die Erklärungsmodelle, an die der jeweils einzelne Lehrer glaubt, sei er christlich geprägt, Muslim, agnostisch, atheistisch, ein Zeuge Jehovas oder was auch immer, werden Einfluss darauf haben, was er in seinem Unterricht für möglich oder sinnvoll hält. Im Hinblick auf konkrete schulische Rituale (morgendliches Beten/Singen, …) und Gespräche über religiös-spirituelle Themen, vor allem aber indirekt im Sinne der Auffassung des Lehrers, in welcher Beziehung Menschen zueinander, zu ihrer Welt, keinem, einem oder mehreren Göttern und vielen anderen wichtigen Komponenten stehen. Welche Verhaltensweisen definiere ich für mich als „böse/schlecht“, was als „gut“, und welche Definitionen habe ich überhaupt für das Böse an sich? Halte ich es für meine Aufgabe, das „Böse“ im Menschen zu bekämpfen, oder gestehe ich ihm einen Platz in dieser Welt zu? Menschen streiten dann über pädagogische Methoden, ohne die Wurzel ihrer Bewertungen – politische un spirituelle Einstellungen –  auch nur anzuschneiden.

Die Beantwortung dieser und ähnlicher Fragen hat jedoch ganz reale Konsequenzen für den täglichen Unterricht für jeden einzelnen Lehrer und die ihm zugewiesenen Schüler, und doch wird Religion/Politik an Schulen üblicherweise eher ausgelagert an die für diese Belange zuständigen „Experten“ wie Religionslehrer oder Lehrer für politische Bildung.

Je nachdem, wie ich diese Fragen für mich beantworten werde, wird es mir auch leichter oder schwieriger möglich sein, die uns alle erwartenden dunklen Nächte des Glaubens zu überstehen, sei es im Alltag oder in der Schule. In meinem eigenen derzeitigen Menschenbild bestätigt sich in verschiedensten Situationen immer wieder, dass es üblicherweise langfristig sinnvoller ist, für eine gewisse Zeit mehr Energie zu investieren, um später die „Früchte“ ernten zu können, etwa ein entspannteres Miteinander nach einem aufgeladenen, aber nun gelösten Konflikt, oder einer Klasse von Schülern, die nun statt äußerer Disziplin, kontrolliert und organisiert über den Lehrer, weitgehend über innere Disziplin der Schüler arbeiten kann.

Warum überhaupt Aktivierungsenergie einsetzen?

Das eingangs beschriebene Problem der Aktivierungsenergie, das so häufig davon abhält, das langfristig sinnvollere und für alle Seiten lohnendere zu tun, ist für mich ein universales, ebenso wie es die Lösung sein könnte: zu glauben. Sich – nach einem Check der notwendigen Ausrüstungsgegenstände – zu erlauben, in die dunkle Nacht zu gehen, dort zu zittern, zu fürchten, zu zweifeln. Um sich dann um so mehr am strahlenden Morgen eines nächsten Tages erfreuen zu können.

Es steht einem jeden frei, dies zu tun oder nicht. Doch mit der Zeit äußert sich die so „eingesparte“ Zeit und Energie wohl in den meisten Fällen entweder als eigene Unzufriedenheit mit den Anforderungen des „so harten Schicksals“ oder in einer gewissen Asozialiät gegenüber anderen, die dann die Konsequenzen der eigenen von energetischem „Geiz“ bestimmten Entscheidungen ausbaden müssen. Beides halte ich für nicht sonderlich wünschenswert, weswegen ich die Problematik der Aktivierungsenergie als hilfreiches Konzept und theoretische Sicherheit in der jeweiligen Situation auch so schätze.

Niklas

Portrait Niklas Baumgärtler

Niklas Baumgärtler

Niklas Baumgärtler interessiert sich für die Kunst der Begeisterung und macht gerne Wechsel- und Hebelwirkungen in Sozialen Systemen sicht- und erlebbar. Mehr über Niklas Baumgärtler...

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