Vielleicht ist es Teil unseres kulturellen Erbes hier in Österreich. Vielleicht liegt es an einer Erziehung zu gehorsamen und fleißigen Menschen. Was auch immer der wahre Grund sein mag, es deprimiert mich, meinen Landsleuten zuzuhören, wie sie sich über Umstände beschweren, ohne einen erstgemeinten Versuch zu unternehmen, etwas zu verändern. Als wären die Umstände nicht das Ergebnis der Entscheidungen tausender Menschen um uns und noch vielen anderen vor uns. Als wären wir an einem Ende einer Geschichte angelangt, das uns zu Ausführenden ewiger Gesetze reduziert. Vielleicht haben die Konzentrationslager ihre Wirkung doch nicht verfehlt, die menschliche Fähigkeit zum Widerstand, zum Anders-denken und zum Neu-denken auszulöschen, wie Hannah Arendt in ihrem Buch „Elemente und Ursprünge des Totalitarismus“ schreibt…
Es ist erschreckend und verstörend für mich, meine alten Freunde wiederzutreffen und feststellen zu müssen, dass sich viele von ihnen in einen Kreislauf hineinmanövriert haben, aus dem sie nicht mehr auszubrechen wagen. Natürlich war uns allen schon in der Schulzeit irgendwo dunkel bewusst, dass die Schule, so nervig sie manchmal sein mochte, harmlos war gegen das, was uns noch erwarten würde. In der Schule konnte man, wenn man sich ein wenig anstrengte (oder gleich alle Anstrengungen aufgab und sich ein wenig treiben ließ) sich zumindest noch an Nachmittagen oder Wochenenden treffen, um sich auszutauschen, um unsere Träume zu träumen und sie manchmal sogar auch umzusetzen. Viele von uns mochten die Schule nicht, sie war uns lästig, schränkte uns ein in dem, was wir für tatsächlich wichtig hielten. Wir kannten den Alltagstrott des Arbeitslebens noch nicht, das Netz an Beziehungen und Verpflichtungen, das uns immer weiter voneinander entfernen würde, bis wir uns als Atome einer atomisierten Gesellschaft wiederfanden. Machtlos. Und trotz einer immer freizügigeren Sexualmoral am Ende doch einsam.
Das Leben der anderen
Ich war wohl immer einer derjenigen gewesen, die eben „ein wenig anders“ waren. Anstatt den Lehrern einfach einen Gefallen zu tun und Sinnlosigkeiten als notwendiges Übel zu akzeptieren, fing ich mir regelmäßig Konflikte mit ihnen an, wenn ich mich (oder andere) ungerecht behandelt wähnte. Selbst im Studium war ich noch bekannt dafür, stets irgendetwas Eigenes machen zu müssen (etwa in dem Jahr, in dem ich mir einredete, ich könnte meine Pollenallergie durch ständiges Barfußgehen heilen – was tatsächlich zu funktionieren schien). Manche dachten damals wohl, ich müsste mich unbedingt hervortun, etwas Besonderes sein, aber das war nur selten meine Motivation dahinter. Ich war unzufrieden mit dem Status Quo, und wollte ihn so verändern, dass er für mich und andere passte. Ich war wohl schon lange zu einer Art „Hacker“ geworden, jedoch nicht nur, um mir selbst Vorteile zu verschaffen, sondern um diese Vorteile allen zugänglich zu machen. Ich verwende bis heute kaum Open-Source-Programme für den täglichen Gebrauch, aber ich habe die Philosophie dahinter aufgesaugt wie ein Schwamm: Wenn etwas nicht passt, arbeite daran, es zu ändern. Und zwar so, dass es für alle besser wird, nicht nur für dich.
Die Angst, zu scheitern
Mir war bewusst, dass ich ein riesiges Glück hatte, an die Schule, an der ich jetzt arbeite, kommen zu dürfen. Was mich jedoch so richtig verblüffte, waren die Begegnungen mit ehemaligen Freunden und Kollegen hier in Österreich und wie es ihnen ergangen war. Die mir davon erzählen, dass sie keine Arbeit als Lehrer fanden und in wenig ansruchsvollen Anstellungen arbeiten mussten, um überleben zu können. Und dass diejenigen, die eine Anstellung als Lehrer gefunden hatten, an den viel zu engen Ansprüchen der Direktoren und Kollegen verzweifelten. All das, während ich mittlerweile fast jede Woche eine Email von Privatschulen oder -Initiativen bekam, in denen stand, dass Lehrer gesucht wurden, die etwas verändern und eigene Ideen einbringen wollten. Es tut mir weh, gutherzigen Menschen zuzusehen, wie sie sich nicht durchringen können, in dem Bereich zu arbeiten, in dem sie dieser Welt viel geben könnten, nur weil sie Veränderungen fürchten.
Ich glaube, es ist Angst, die sie zögern lässt, die ihre Bahnen einschränkt und ihr Leben alltäglicher werden lässt, bis irgendwann kaum mehr etwas über ist von den Träumen, die sie einst antrieben. Es ist Angst, die einen alten Freund von mir dazu treibt, den tagtäglichen Rhythmus von Arbeit, Essen und dem Konsum zahlreicher Animes kaum mehr zu unterbrechen. Angst, die einen anderen sagen lässt, er hätte keine Freunde mehr in seiner Nähe und könne somit nichts mehr erleben, ist halt so. Angst, die eine Freundin sagen lässt, sie könne ihre Geschäftsidee nicht umsetzen, weil sie noch nicht perfekt ausgereift sei. Es herrscht eine riesige Angst vor dem Scheitern, als wäre es die letzte Chance, etwas aus unserem Leben zu machen, als seien wir 75 und nicht 25. Eine Angst vor dem Beginnen, dem Neuanfang, der unser Leben verändern könnte.
In meinen ersten Wochen in Kiel habe ich oft geglaubt ich schaffe es nicht, fern von meinen Freunden und meiner Familie, und war oft fertig, wenn ich von der Schule nach Hause kam. Wir brauchen wohl alle ein gesundes Maß an Bindung, an Körperkontakt, an Liebe, und wenn wir diese Grundbedürfnisse fern von unserer Heimat nicht gut erfüllen können, leiden wir. Aber Leiden, wie alles in der Welt, ist nicht von Dauer. Es ist ein temporärer Zustand, und manchmal wohl sogar ein notwendiger Zustand, um Glück und Zufriedenheit zu finden.
Echtes Lernen setzt Leiden voraus, und die Bereitschaft, sich dem Leiden zuzuwenden, anstatt ihm durch Ablenkung zu entfliehen. Die Suche nach einem leidlosen Leben ist die Suche nach einem statischen Leben, das sich nicht mehr verändert. Ist die Suche, die Sehnsucht nach dem Tod. Leben ist Leiden, wie schon der Buddha erkannte, weil Leben eben nicht statisch ist. Solange wir leben, ist es auch unsere Aufgabe, zu leben, den Becher des Lebens bis zum Grund zu trinken, wie eine gute Freundin einst meinte. Sich dem Leiden zu stellen und das zu tun, was notwendig ist, um es zu überwinden.
Die Angst vor dem Erfolg
Nelson Mandela zitierte einst eine weise Frau, indem er sinngemäß meinte, unsere größte Angst sei es nicht, zu schwach zu sein, sondern unendlich mächtig. Es ist einfach, schwach zu sein, es ist bequem, ein Opfer der Umstände zu sein. Die Gesellschaft sei eben Schuld, oder der böse Schuldirektor, der schlechte Vorschriften mache, als wären sie Naturgesetze und nicht historisch gewachsene Umstände, die durch unsere Entscheidungen im Hier und Jetzt ständig beeinflusst werden. Das „Sudern“, das Aufregen über angeblich nicht änderbare Umstände, mag einen Teil unseres kulturellen Erbes darstellen, aber es ist keines, auf das wir sonderlich stolz sein, sondern eines, an dessen Überwindung wir arbeiten sollten.
Wir brauchen mehr Hacker
Sollen wir unsere Schüler in unseren Schulen also auf eine Gesellschaft vorbereiten, in der „man eben nichts machen kann“ und sie somit zu ebenso verantwortungslosen Suderern heranziehen? „In der Arbeit muss man ja auch machen, was der Chef sagt“ ist längst kein generell wertvoller Rat für alle Situationen mehr, seit viele Unternehmen realisiert haben, dass auch formell untergebene Mitarbeiter manchmal sinnvolle Einfälle haben, flachere Hierarchien die Norm statt der Ausnahme darstellen und Crowdsourcing und alle verwandten Konzepte an Zulauf gewinnen. Wir brauchen keine sturen Ausführer, weder in unseren zukünftigen noch in unseren derzeitigen erwachsenen Mitbürgern, dafür werden wir über kurz oder lang Automaten und Roboter haben. Wir brauchen aber auch keine alles Bestehende ablehnende Revolutionäre. Wir brauchen Hacker, Weiter- und Neu-Denker, die mit uns an einer lebbaren Zukunft bauen, indem sie den Hintersinn alter Systeme verstehen lernen und versuchen, sie an die aktuellen Bedürfnisse anzupassen, zum Wohle aller.
Eine gute Freundin meinte unlängst in einem Gespräch, in dem ich ihr von meinem Schmerz erzählt hatte, alte Freunde so passiv und im Alltagstrott gefangen zu erleben, dass das beste, was ich für jene tun könne, sei, mein Leben anders zu leben und ihnen dadurch aufzuzeigen, dass das Leben nicht so einförmig und trostlos sein müsse, wie sie zu glauben scheinen. Vielleicht hat sie recht. So gern ich all meinen Freunden helfen würde, retten müssen wir uns am Ende wohl alle selbst.
Ich bin nicht intelligenter oder stärker als die meisten anderen Menschen, diese Ausrede gilt leider nicht. Ich wurde als Kind und Jugendlicher von meinen Mitschülern ausgelacht wie viele andere (und sah auch zugegebenermaßen ziemlich dämlich aus zu jener Zeit), habe meine depressiven Phasen wie meine optimistischen, wie wohl jeder andere Mensch auch. Es steckt in uns allen das Potential, unser Leben in die Hand zu nehmen und etwas daraus zu machen, auf das wir am Ende stolz sein können. Vielleicht ist dazu etwas notwendig, das heutzutage oft mit ein wenig Argwohn betrachtet wird: Glaube. Nicht notwendigerweise der Glaube an eine bestimmte Religion oder an einen Gott, aber der Glaube, dass alles vergeht – auch das Leiden. Denn dann wird plötzlich alles möglich, wenn man nur bereit ist, dafür zu stehen, dafür zu leiden, dafür zu kämpfen und zu siegen.
Also, meine lieben Freunde und die, die es noch werden, auf in den Kampf – auf ins Leben!
Niklas
P.S.: Ich hätte gerne einige Formulierungen dieses Artikels noch weiter überarbeitet, aber das Internet hier auf Reisen fällt ständig aus und ich bin nicht sicher, wie lange es noch funktionieren wird. Aber Perfektionismus wird bekanntermaßen ohnehin überbewertet, und die Botschaft wird wohl auch so ankommen…