In meiner zweiten Woche Englisch-Sommerkurse fällt es mittlerweile bereits ein wenig leichter, das Funktionierende vom nicht Funktionierenden, die von aussen auferlegten und die aus inneren Antrieb absolvierten Übungen voneinander zu unterscheiden. Ich wollte neben meinen Mathematikkursen, die ich bereits jahrelang an der Schülerhilfe hielt, noch probeweise zwei Englischkurse hinzunehmen, um mir selbst eine Herausforderung zu schaffen, und in der ersten Woche lief ich entsprechend oft bedingt durch meine mangelnde Praxiserfahrung gegen Wände.
Mein Plan, mit meinen Schülern durchgängig Englisch zu sprechen, wurde durch die Aussage einer Schülerin durchkreuzt, sie verstehe kein Wort gesprochenes Englisch. Ich war schnell wieder am Boden der Realität angelangt: meine Schüler konnten möglicherwiese ihre Übungszettel ausfüllen, aber Englisch konnten sie nicht, oder zumindest hatten sie gelernt, Situationen zu vermeiden, in denen sie frei schreiben oder sprechen mussten.
Schreib weiter!
Nach einer Weile fand ich heraus, dass Schreib-Weiter-Geschichten ein durchaus ansprechendes Medium für den noch so schüchternen oder bezüglich der englischen Sprache selbstbewusstsfreien Schüler darstellten, da es dabei nicht darum ging, besonders perfekte Sätze zu formen, die auch noch einen erkennbaren Zusammenhang aufzuweisen hatten. Ein jeder schrieb eben, was ihm einfiel. Im Eifer des Gefechts bemerkten meine Schüler gar nicht, dass sie dabei von selbst nach zahlreichen Vokabeln fragten, obwohl sie sich anfangs gegen ein Lernen von Vokabeln ausgesprochen hatten.
Mit Hilfe dieser Geschichten hatte ich dann in der darauffolgenden Einheit eine Ressource für mich, ausgehend von den Fehlern, die sie machten, auf bestimmte rechtschreibliche oder grammatikalische Tipps und Tricks hinzuweisen. Tatsächlich verminderte sich die Anzahl der Fehler bei der nächsten Geschichte um ca. 75%, um sich daraufhin wieder deutlich zu erhöhen. Doch die Geschichten glichen nicht mehr den zaghaften ersten Versuchen, da waren komplexe verschachtelte Satzkonstruktionen und wilde Fantasiesprünge zu finden, die beim Durchlesen der ersten Geschichten undenkbar erschienen. Sie freuten sich auf die neuen Geschichten, konnten es kaum erwarten, bis sie einen neuen Satz unter den umgeklappten letzten Satz anfügen konnten. Sie hatten sich beschwert, dass sie keine Aufsätze schreiben wollten. Innerhalb von drei Tagen fragten sie von selbst, wann sie endlich wieder welche schreiben durften.
Bühne frei!
Diese Woche fing ich dann testweise an, einige Theaterpädagogik-Übungen mit einzubauen. So etwa die Übung, in der jemand mit den Händen einen imaginären Gegenstand formt, an den nächsten weitergibt, der ihn wieder umformt und so weiter, wobei wir am Ende jeweils (auf Englisch) erzählten, was jeder mit dem Gegenstand aufgeführt hatte. Wir spielten Freeze, was mit der Zeit heute in ein allgemeines Improvisations-Theater ausartete, alles komplett in Englisch. Es war im Vergleich zu einem herkömmlichen Unter-richt ein absurdes Mass an Partizipation, Spontanität, Kreativität und einem regelrechten Aufsaugen der englischen Sprache zu beobachten.
Von einem herkömmlichen Unter-richt mit seinen Vokabellisten und Grammatikübungen war auch nichts mehr an seinem Platz geblieben. Wir rollten als Hund über den Boden, waren furchterregende Baummonster, lösten als Polizisten eine Demonstration friedlich auf (nicht ohne vorher einen strategischen Plan dafür an der Tafel anzufertigen), führten ein Schaf Gassi, interpretierten Sinatra’s New York, New York auf den Tischen und gingen in all dem Spass so völlig in unseren Rollen auf, dass es niemanden mehr auffiel, dass wir überhaupt eine andere Sprache sprachen.
English? Seriously?
In dieser Zeit schufen wir gemeinsam eine Art eigenes Universum für uns selbst, fern von der schulischen Realität mit seinen Fehlern und gekünstelten Unter-richts-Situationen, einen Freiraum, in dem wir nicht über, sondern durch eine Sprache kommunizierten, eine Art magische Welt, in der die Grenzen zwischen Lehrer und Schüler aufhörten, zu existieren. Wir waren frei, die Menschen zu sein, die Rollen zu verkörpern, die wir für die jeweilige Situation als passend empfanden, und unser Ziel war es, diesen Freiraum auf eine für uns alle sinnvolle Art und Weise zu befüllen, so gut wir es eben vermochten.
Martin Luther King Jr. meinte einst, er hätte einen Traum, und dieser Traum inspirierte Millionen, wenn nicht Milliarden. Auch ich habe einen Traum, aber es ist gleichzeitig mehr als ein Traum. Es ist eine alltägliche Realität, die wir mit einem Traum zu verwechseln scheinen, weil wir gelernt haben, zu schlafen, wir gelernt haben, die uns als Realität verkaufte Realität als einzig wahre und die Alternativen als Träume von Träumern zu denunzieren. Wer Veränderung will, muss aufhören, davon zu träumen, muss aufwachen und anfangen, seine Träume zu leben und dabei unweigerlich entdecken, wie viele Realitäten es neben der uns verkauften noch zu geben vermag.
Vermutlich mindestens so viele, wie es Menschen gibt.
Niklas