Eine lange Wartezeit auf meinen Anschluss-Bus, einige Gespräche mit Freunden und Bekannten zu verwandten Themen, das beständige mediale Bombardement mit jeweils mehr oder weniger versteckten implizierten Aufforderungen, sich einer der drei vorherrschenden Meinungen („Alle Ausländer sind böse“, „Alle Ausländer sind gut“, „Mir alles wurscht“) anzuschließen kulminierten heute Vormittag in einer Frage, deren Beantwortung mich die folgenden Stunden noch beschäftigte: Was macht den Unterschied zwischen jenen Menschen aus, die sich für die eine, und jenen, die sich für eine andere Meinung entscheiden? Und dann, nachdem ich dem einen mir fremden Mann 100 Euro geborgt hatte und kurz darauf zwei weiteren sagte, ich wolle ihnen nichts geben, auch noch die Frage, nach welchen Kriterien ich selbst in solchen Situationen eigentlich unbewusst entscheide, ob ich zu geben bereit bin oder nicht.
Über jene Fragen nachdenkend, ist mir meine immer wieder in meinem Kopf auftauchende Idee wieder eingefallen, eine Art monatliches „Budget“ für solche Situationen einzuplanen. In Bolivien, wo wir damals kaum eine Straße entlanggehen konnte, ohne angebettelt zu werden, ist mir damals die Lösung gekommen, jeden Tag am zentralen Markt eine bestimmte Anzahl an Keksen zu kaufen, und dann jedem, der um Geld/Essen/wasauchimmer bat, stattdessen einfach einen Keks zu geben – solange, bis keine Kekse mehr über waren. Da Kekse nicht unbedingt die gesündeste Nahrungsform darstellen, hatte ich mir unlängst überlegt, stattdessen monatlich ein Budget von 20 Euro, gestückelt in 5-Euro-Scheinen, einzuplanen. Jeder, der mich um Geld bitten würde, würde einen 5-Euro-Schein bekommen, solange das Budget noch nicht erschöpft war. Die einzige Bedingung würde es sein, von sich selbst und seiner (oder eine andere unterhaltsame) Geschichte zu erzählen. Als Hobby-Autor würde ich damit jemanden für seine Erfahrungen „bezahlen“, auch, um deutlich zu machen, dass jede (Lebens-)Geschichte und damit auch jedes Leben einen Wert hat, den auch eine noch so gefühlt verpfuschte Lebensführung nicht auslöschen kann. Oft sind es vor allem die gesellschaftlichen „Ausreißer“, die uns noch etwas über unser Menschsein lehren können.
Problem Nr. 1: Vampir-Beziehungen
Darüber nachsinnierend, ist mir aufgefallen, dass bei diesem Vorgehen sehr viele Aspekte Berücksichtigung finden, die ansonsten die Frage, ob ein Mensch in einer bestimmten Situation helfen kann oder will, erschweren. Ein sehr wesentlicher davon ist es, dass das Ausmaß der Hilfe nicht von der Bedürftigkeit des Anderen, sondern von der eigenen Kapazität zu helfen bestimmt ist. Es geschieht sehr rasch, dass sich eine einmal aus dem Moment angebotene Hilfe in eine Art „Vampir-Beziehung“ entwickelt, die die eigenen Kapazitäten überschreitet, die man aber aus dem Schuldgefühl, nun für den anderen verantwortlich zu sein, nicht vollends durchschaut. Als ich einmal einer jungen Frau 300 Euro schenkte, rief sie mich Tage später an und fragte, ob sie nicht mehr haben könnte. 300 Euro waren aber damals in etwa die Hälfte meiner monatlichen Ausgaben, und ich hatte damit meine Ersparnisse so gut wie aufgebraucht, fühlte mich jedoch trotzdem schuldig. Ich hatte das Gefühl gehabt, dass dieser Frau niemand half, und weil sie Hilfe brauchte, müsste eben ich ihr helfen, auch wenn es massiv über meine eigenen Kapazitäten hinausging.
Die wenigsten Menschen werden in finanziellen Belangen ein derart ausgeprägtes Selbstaufopferungsbedürfnis haben wie ich damals, aber vor allem im emotionalen Bereich ist ein ähnliches Verhalten sehr verbreitet. Die meisten von uns dürften wohl mindestens einen Menschen kennen, der einen spielend durch sein „Arm-Sein“ dazu bringt, seine Opfer-Rolle und damit die eigene Helden-Rolle zu akzeptieren. Vor allem, wenn man dies eine Weile zugelassen hat, wird man dann, wenn man diese Art der Beziehung hinterfragt, oft mit wüsten Anschuldigungen oder projizierten Schuldgefühlen konfrontiert. Ich habe das mittlerweile schon so oft mit verschiedensten Menschen erlebt, dass ich mir die Vermutung zutraue, dass es sich bei diesen Menschen oft um welche handelt, die sich schwertun, sich selbst als eigenständiges Wesen, mit der Macht (und Verantwortung), ihr Leben zu bestimmen, wahrzunehmen. Meist wird dann von den „Helden“ irgendwann der Kontakt abgebrochen (oft auch provoziert von den Opfern, die immer mehr verlangen, bis der Punkt erreicht ist), was die Opfer-Rolle wiederum bestätigt. Es benötigt sehr viel innere Klarheit, mit solchen Menschen langfristig auszukommen – andererseits ist es auch eine fantastische Möglichkeit, diese innere Klarheit in sich auszubilden und zu verbessern.
Wenn wir nun davon ausgehen, dass sehr viele Menschen die Erfahrung gemacht haben, dass sie anderen Menschen emotional, materiell und/oder finanziell unter die Arme gegriffen haben, und dann überrascht waren, wie sehr der andere nicht nur undankbar war, immer mehr forderte, vielleicht sogar eine Art „Recht“ auf die Weiterführung dieser Art der Beziehung für sich beanspruchte, so erscheint es sehr wahrscheinlich, dass diese Menschen, bevor sie bereit sind, einem Fremden zu helfen, erst einschätzen können wollen, ob sie die Gefahr einer solchen „Vampir-Beziehung“ ausschließen können. Ich glaube, dass ist der eigentliche Hauptgrund dafür, dass Menschen immer seltener bereit sind, anderen zu helfen. Meistens ist es nämlich nicht auf den ersten Blick ersichtlich. Die zahlreichen Fundraising-Organisationen mit ihren Spenden-Abo-Keilern tragen auch nicht unbedingt dazu bei, diese Angst zu mindern…
Eine Freundin erzählte mir unlängst, sie hätte eine Frau, die vor ihrem betrunkenen und offensichtlich gewalttätigen Mann flüchtete, geholfen, sicher ins nächste Krankenhaus zu kommen. Ein nobler Akt der Zivilcourage – und zwar einer, bei der die Aufgabe klar umrissen war und ein klares Ende der Verantwortung in Sicht war: die Frau war sicher im Krankenhaus angekommen, und die dort würden sich weiter um sie kümmern. Hätten sie die Frau stattdessen zu sich nach Hause mitgenommen, wäre unklar gewesen, inwieweit sie fortan für sie verantwortlich gewesen wären. In diesem speziellen Fall existiert weiterhin der wütende Mann, der sie auch nach dem Krankenhaus noch eine Weile verfolgt hat. Möglicherweise ist die Sache mit einem einmaligen Entkommen für sie nun erfolgreich erledigt – möglicherweise trifft sie den Mann irgendwann wieder, und muss damit rechnen, dass versucht werden könnte, sie erneut in die Sache hineinzuziehen.
Problem Nr. 2: Fehlendes Bewusstsein über die Konsequenzen
Ein zweiter wichtiger Aspekt neben der Einschätzung, ob die Hilfe nicht in eine dauerhafte Übernahme von Verantwortung übergeht, die die eigenen Kapazitäten übersteigt, ist die Möglichkeit, ganz konkret zu wissen, wie es um diese Kapazitäten eigentlich ganz allgemein steht. Ich sammle ja seit über einem Jahr meine Rechnungen und mache einmal im Monat eine simple Einnahmen-Ausgaben-Rechnung. Nach einem Jahr kann ich relativ gut feststellen, wie viel Geld ich im Monat tatsächlich brauche, wie viel ich demnach verdienen sollte und wie groß mein finanzieller Spielraum bei der Arbeitssuche wirklich ist. Ich kann mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass es mich nicht in existenzielle Bedrängnis bringen wird, wenn ich (wie heute) jemandem 100 Euro borge, der zwar verspricht, es zurück zu überweisen, aber bei dem ich nicht wissen kann, ob er es tun wird, weil ich ihn gar nicht kenne. Würde ich das nicht ganz konkret für mich wissen, weil ich die Zahlen nicht hätte, würde ich wohl jetzt gerade darüber nachdenken, ob es schlau war, ihm zu vertrauen. So habe ich das Geld für mich abgeschrieben, und freue mich, falls es tatsächlich zurückkommt. Wenn nicht, weiß ich, dass es mir keine existenziellen Sorgen bereiten wird.
Geben und Nehmen… oder schenken?
Und damit nähern wir uns einem interessanten Phänomen. Politisch gesehen existieren ja wie eingangs schon erwähnt die zwei Extreme „Alle Ausländer sind gut“ bzw. „Alle Ausländer sind schlecht“, die ich beide für massiv fahrlässig halte. Aber in Wahrheit ist die Frage, ob die „gut“ oder „schlecht“ seien, ja eigentlich nur dann relevant, wenn ich von einer Art von Austausch ausgehe. Die meisten (politischen) Argumente gehen ja eher in Richtung „Das sind alles Schmarotzer“ bzw. „die sind gut für die Wirtschaft“, im Sinne von: Was bekommen wir von denen zurück? Aber wenn ich ein gewisses Bewusstsein für meine eigenen Kapazitäten erreiche, und diese zur Basis meiner Entscheidungen mache anstatt irgendwelcher ideellen Vorstellungen, wird die Frage irrelevant, was ich zurückbekomme. Es ist ein ziemlich mieses Gefühl, wenn ich einem Menschen Geld gebe, dass ich eigentlich selbst gerade dringend brauche, und mich dann frage, ob ich es wirklich zurückbekomme, oder er gerade mein Vertrauen missbraucht. Wenn ich jedoch weiß, dass ich einem Menschen gerade Geld gegeben habe, das ich nicht für mich selbst brauche, kann ich vollen Herzens geben. Oder ohne schlechtes Gewisse Nein sagen, wenn ich es für mich brauche.
Es ist sehr interessant, was passiert, wenn man anfängt, so zu denken und zu handeln, weil es offensichtlich so selten ist, dass es die meisten Menschen ziemlich irritiert. „Du tust immer nur wie ein Alternativ-Mensch, aber eigentlich bist du gar keiner“, warf mir unlängst etwa eine Freundin vor, weil ich –basierend auf meinen eigenen Kapazitäten – manchmal für sie da sein kann und manchmal eben nicht, anstatt – um als „richtiger“ alternativ eingestellter Mensch zu gelten – immer und unabhängig von meinen eigenen Kapazitäten für sie da bin. Die Idee der eigenen Kapazität ist ihr völlig unverständlich, was immer wieder zu Konflikten führt. Aber sie ist so logisch für mich, dass ich trotzdem darauf bestehe, mein Handeln danach auszurichten, und es tut mir sehr gut. Nur bemerke ich dabei umso deutlicher, wie sehr andere Menschen oft in ihren Vorstellungen leiden, was sie tun oder lassen sollten, egal, wie es ihnen geht.
Konstruktive Lösungen der „Ausländer-Frage“
Wirklich interessant wird die Sache jedoch vor allem dann auf einer gesamtgesellschaftlichen Ebene, und vor allem auch im Hinblick auf die „Ausländer-Thematik“. Die jeweiligen Budget-Zahlen sind dabei um ein Vielfaches größer, aber vielleicht ist es trotzdem möglich, diese Budget-Zahlen so aufzubereiten, dass sie diese Frage nachvollziehbar beantworten können: „Wie viel können wir ohne Bedenken entbehren, selbst wenn nie etwas zurückkommt?“. Diese Frage muss langfristig (> 10 Jahre) beantwortet werden, damit die damit verbundenen Entscheidungen nicht mehr ähnlich willkürlich beantwortet werden wie die Frage, welcher Bettler auf der Linzer Landstraße Geld von mir bekommt und welcher nicht. Es ist sehr leicht, das Gefühl aufkommen zu lassen, dass die Kapazität überhaupt nicht da ist, wenn es keine konkreten und für jeden Schüler verständlichen Zahlen dazu gibt, oder es sie gibt und nicht damit argumentiert wird.
Es ist meine Hoffnung, dass wir in Österreich (und Europa) über die Frage, ob Migration, Asyl usw. uns mit „guten“ oder „bösen“ Menschen „überschwemmt“, hinwegkommen, weil sie uns einfach nicht weiterbringt und zu Stillstand verdammt. Wenn wir zu den Fragen „Wie viel können wir entbehren?“ und „Was können wir mit dem, was wir entbehren können, tun?“ gelangen, werden wir feststellen, dass wir kurz- und langfristige Strategien brauchen. Kurzfristige werden sein, mit den vorhandenen Mitteln und Kapazitäten sinnvoller zu arbeiten, weil die derzeitige Vorgehensweise meiner bescheidenen Meinung nach einfach eine völlige Sauerei ist.
Und langfristig wird es ein Ziel sein müssen, die Kapazitäten hier weiterzuentwickeln, und zwar nicht nur finanziell. Zum Beispiel, in dem international versucht wird, eine weltweit einheitliche „Weltsprache“ zu etablieren, die überall als verpflichtende Zweitsprache gelehrt (und diese Lehre mit internationalen Mitteln gefördert) wird, so dass es irgendwann möglich sein kann, dass jeder Mensch mit jedem kommunizieren und die gegenseitigen Ängste und Vorurteile ausräumen kann. Dass wir in Österreich endlich mal alle zumindest Englisch lernen (wenn es international nicht so schnell klappt) und uns daran gewöhnen sollten, nicht nur Deutsch als „angemessene“ Sprache zu betrachten, sondern zumindest auch Englisch. Und wenn wir eine Sprache nicht können, sollten wir lernen, nicht über sie zu schimpfen, weil wir sie nicht verstehen, sondern sie entweder a) als alternative Möglichkeit der Kommunikation zu akzeptieren, die uns verschlossen bleibt oder b) sie einfach selbst zu lernen.
Es ist wichtig, Existenz-Ängste mit Mitteln zu bekämpfen, die auch Sinn machen, und „wir lassen einfach keine Ausländer rein“ wird genauso wenig helfen wie „wir lassen alle rein, wir glauben, die sind alle lieb“. Wenn wir die Angst entkräften können, dass dabei Vampir-Beziehungen entstehen (die Übernahme von Verantwortung auf undefinierte, unbegrenzte Zeit und mit ebenso unbegrenzten Mitteln), oder dass wir eigentlich nicht genug haben, um guten Gewissens geben zu können, dann ist viel gewonnen. Aber wir müssen eben tatsächlich auch mit Zahlen vorrechnen können, dass wir genug haben. Und Entsprechende Gesetze und Regelungen haben, die unnötige Vampir-Beziehungen vermeiden helfen.
Solange dies nicht geschieht oder auch nur angestrebt wird, haben Rattenfänger aller Farben leichtes Spiel.
Niklas