Als ich vor bald einem Jahr nach einem Wach-Marathon von mehr als 50 Stunden hier in Curitiba aus dem Flugzeug stieg, am Flughafen aus Angst vor Dieben halb auf einer Bank, halb auf meinem Koffer, meinen Rucksack umarmt, den bitter nötigen Schlaf zu finden suchte, konnte ich kaum ein Wort Portugiesisch. Ich hatte zwar in Österreich einen Sprachkurs besucht, aber kaum mehr als Obrigado (Danke) oder Oi (Hallo) davon mitgenommen. Mein Wortschatz von geschätzten zwanzig Wörtern erwies sich als kaum ausreichend, um herauszufinden, wie ich in mein Hostel kommen konnte, und der etwa ebenso grosse Wortschatz an Englisch des durchschnittlichen Brasilianers half auch kaum. Angekommen im Hostel (in dem glücklicherweise die Betreiber Englisch, teilweise sogar Deutsch konnten), fiel ich sofort in einen komaähnlichen Schlaf.
In den ersten zwei Monaten redete ich hauptsächlich Englisch und, sporadisch, auch Deutsch. Ich belegte einen Portugiesisch-Kurs an der Uni, aber der Kurs half mir (gefühlt) nicht allzu viel. Ich glaube heute, eine Sprache lässt sich nicht auf diese durchstrukturierte Art lernen. Ein Kind lernt eine Sprache, indem es beobachtet, dass die Worte und Sätze, die Menschen formen, andere Menschen beeinflussen, und versucht, Rückschlüsse aus diesen Beobachtungen zu ziehen, wie sie selbst ihre Wörter und Sätze zu formulieren haben, um ähnliche Effekte zu erreichen.
Neben der Beobachtung von anderen sprechenden Menschen beobachten sie auch ihre eigenen Interaktionen mit anderen. Kinder lernen durch Beobachtung und durch Experimentieren. Erwachsenen stehen neben diesen „Rohdaten“ auch noch andere Hilfsmittel wie Grammatiken oder Wörterbücher zur Verfügung, um diesen Lernprozess abzukürzen. Aber auch die beste Grammatik ersetzt nicht den Prozess der Beobachtung und des Experimentierens.
Deutsch ist einen Illusion
Sprache existiert – wie jedes System – nur in dem Sinne, in dem Menschen sie benutzen. Eine bestimmte Sprache bedeutet nichts anderes als eine von mehreren Menschen geteilte Art und Weise, Sinninhalte zu transportieren. Spanisch an sich existiert nicht. Es existieren jedoch viele Menschen, die eine grossen Teil ihrer Kommunikation in einer ähnlichen Art und Weise abgestimmt haben, und die Abstraktion dieser Ähnlichkeit lässt sich beispielsweise Spanisch nennen.
Dies zeigt sich sehr deutlich im fliessenden Übergang an der Grenze zwischen Spanisch- und Portugiesisch-sprachigen Ländern hier in Südamerika. Wer Portugiesisch in einem Sprachkurs lernt, der lernt, sich an Regeln zu halten, die in dieser Form nicht existieren.
Sprachen lernen 3.0
Die logische Folge ist es, dass ein effektives Lernen von Sprachen auf drei Säulen fussen sollte. Zum einen auf der Beobachtung von anderen jene Sprache sprechenden und der Folgen ihrer Interaktionen. Beispielsweise die Beobachtung, dass jemand, der sich mit „Uma cerveja, por favor“ an eine Kellnerin wendet, kurz darauf ein Bier bekommt. Bei genügend Wiederholungen dieser Beobachtungen mit verschiedenen Variationen können die einzelnen Wörter, ihre Bedeutungen und die Bedeutung ihrer Zusammensetzung verstanden werden.
Die zweite (und für mich wichtigste) Säule stellt das Experimentieren mit dem bereits erworbenen Sprachschatz dar. Nein, keine Multiple-Choice-Tests. Kein wahr oder falsch. Ein Experimentieren, ob ein Sinninhalt mit den zur Verfügung stehenden Mitteln transportiert werden kann. Ich konnte kaum ein Wort auf Portugiesisch aussprechen, und trotzdem fand ich den Weg ins Hostel, weil die portugiesische Sprache nur ein Teil der Sinnzusammenhang-Transportations-Möglichkeiten darstellt.
Es ist einfach unrealistisch, Schüler in der Schule danach zu beurteilen, ob sie einen Satz grammatikalisch korrekt formen können. Wenn sie etwas so ausdrücken können, dass der andere versteht, was sie meinen, haben sie gewonnen. Und wenn es dazu Hände und Füsse oder Sprachbrocken anderer Sprachen verwenden, dann entspricht dies viel mehr einer realistischen Kommunikation als grammatikalisch perfekte Satzbauten. Diese Verschiebung erlaubt es auch, zu erkennen, dass ein jeder Mensch mit einem jeden anderen Menschen zumindest einige gemeinsame Möglichkeiten zur Verständigung besitzt. Selbst in der schriftlichen Kommunikation erlauben es bestimmte Satzzeichen oder auch Bilder/Videos, Sinnzusammenhänge zumindest ungefähr zu verstehen. Ich lernte beispielsweise das Wort „parar“ (aufhören, stoppen), weil in den gleich wie in Österreich geformten Stopptafeln „pare“ steht.
Die dritte Säule stellt die Vermittlung von Hilfsmitteln zur Beschleunigung des Lernprozesses dar. Wörterbücher helfen, gewisse Wörter aus der Ursprungssprache mit den Entsprechungen der neuen Sprache zu assoziieren. Grammatiken können helfen, Satzbauten zu erkennen oder selbst einfache Sätze zu formen. Immer wieder erklärten mir Freunde einige einfache Tricks, wie ich meine teils etwas absurden Satzbauten auf einfache Weise verbessern konnten. Aber entgegen der üblichen Praxis an Schulen halte ich es für kontraproduktiv, wenn diese Hilfsmittel als eigentliches Sprachenlernen angesehen wird.
Schule: An Sprachen vorbeilernen 3.0
Wenn wir diese drei Säulen betrachten, dann können wir mit ihrere Hilfe analysieren, warum zwar Kinder teilweise bereits ab der Volkschule Englisch-Unter-richt haben, aber trotzdem noch so viele am Ende ihrer Schulkarriere keine Konversation mit Englischsprachigen führen können. Natürlich gibt es genug, die dies gelernt haben, ich zähle mich selbst hinzu, aber in meinem Fall führe ich es darauf zurück, dass ich, seit ich klein war, selbst englische Musik gehört, gesungen, komponiert, Filme aus Prinzip in Originalsprache gesehen und allgemein sehr viel (auch über das Internet) mit englischsprachigen Menschen zu tun hatte.
In einer typischen Schulklasse haben wir, wenn der Lehrer (was leider auch oft nicht der Fall ist) seine Fremdsprache gut beherrscht, oft niemanden zweiten, mit dem der Lehrer in jener Sprache kommunizieren könnte und an deren Konversation die Anfänger lernen könnten. Auch ein Experimentieren an der Realität ist nur sehr eingeschränkt möglich, da die anderen Anfänger ebenso wenig verstehen wie man selbst. Und wenn die Lehrkraft dann noch darauf pocht, dass die Schüler doch bitte vorgeschriebene Dialoge aneinander vorsprechen sollen, dann lernen die Schüler zwar vielleicht, wie jemand auf bestimmte Sätze reagieren sollte, aber nicht, wie jemand auf ihre eigenen Sprachfetzen wirklich reagiert.
Landessprachen
Natürlich ist es leichter, Portugiesisch zu lernen, wenn man in einem Land wie Brasilien lebt, in dem ein jeder Spaziergang zahlreiche Beobachtungsmöglichkeiten ergibt. Werbeplakate, diskutierende Menschen, Schaufensterauslagen und so weiter ermöglichen ein fast unbewusstes Aufbauen von Sinnzusammenhängen, das in Österreich etwa schwer nachzubilden sein wird. Aber vor allem für das Erlernen der englischen Sprache lassen sich etwa Computer und elektronische Geräte auf Englisch umstellen, ermöglichst das Internet als Ganzes unglaubliche Fülle von auch interaktiven Möglichkeiten der Beobachtung und des Experimentierens.
Und nicht zuletzt sollten wir auch die bisher leider kaum genutzte Ressource der Reisenden einbinden. Täglich suchen Millionen Menschen rund um den Globus über Couchsurfing etwa einen Schlafplatz, was spricht dagegen, diese Menschen als „Gegenleistung“ zu bitten, doch einen Tag in die Schule zu kommen und (in der jeweiligen Sprache) etwas über ihr Herkunftsland (oder was auch immer) zu erzählen?
Vorteile von „Ghettos“
In Österreich regen wir uns gerne darüber auf, dass die bösartigen Migranten untereinander bleiben und ihre „Ghettos“ bilden. Ich möchte dazu anmerken, dass ich selbst jetzt, wo ich doch schon sehr flüssig Portugiesisch spreche, mir einfach tausendmal leichter tue, mit meinen Deutsch- oder Englischsprachigen Freunden zu reden. Ich habe erst dann wirklich angefangen, aktiv Portugiesisch zu lernen, als ich genug Freunde gefunden habe, die neben Portugiesisch auch eine meiner Sprachen sprechen. Ich brauche Menschen, mit denen ich tiefere Gespräche führen kann als Hallo, ich bin der Niki und ich komme aus Österreich. Erst wenn dieses Bedürfnis gestillt ist, kann ich mich genug entspannen, um mich auf eine weitere Sprache einzulassen.
Zudem – und dies ist vermutlich vor allem für Situationen, in denen Deutsch als Fremdsprache unterrichtet wird, wichtig – war es für mich unglaublich schwierig, Portugiesisch von jemandem zu lernen, der keine meiner eigenen Sprachen beherrscht. Ab einer gewissen Fähigkeit in Portugiesisch ging es dann auch rein in der Zielsprache, aber wenn ich mir vorstelle, dass beispielsweise bosnische Kinder auf Deutsch lernen sollen, Deutsch zu sprechen, so kann ich mir vorstellen, wie schwierig dies für diese sein wird.
Und schlussendlich noch eine Anmerkung zur leidigen Diskussion, dass „die Ausländer“ bei uns ihre „Ghettos“ bilden und nur untereinander bleiben: Abgesehen von diversen wirtschaftlichen Gründen, auf die ich gar nicht eingehen will, und davon, dass ich es mittlerweile, wo ich doch immer noch sehr viel mit Deutsch- und Englisch-sprachigen zu tun habe, durchaus nachvollziehen kann: es kann eine unglaubliche Chance bedeuten. Wenn ich jetzt innerhalb einer Siedlung hundert Bosnier wohnen habe, die sehr viel Kontakt unter sich haben, habe ich dort praktisch vor meiner Haustüre die Möglichkeit, authentisches Bosnisch zu lernen, ohne erst nach Bosnien ziehen oder einen Cent dafür bezahlen zu müssen.
Hier in Curitiba gibt es etwa ein italienisches Viertel, sehr viele zusammen lebende Deutsche und Ukrainer, vor allem im Bundesstaat Santa Catarina auch sehr viele deutsche Kolonien, in denen zwar die Mehrheit Portugiesisch kann, aber trotzdem viel oder sogar hauptsächlich auf Deutsch gesprochen wird. In Blumenau, einer der grösseren Kolonien, findet angeblich sogar das zweitgrösste Oktoberfest nach deutschem Vorbild weltweit statt. Viele Menschen üben ihr Deutsch in diesen Orten. Warum muss in Österreich ein Problem sein, was hier hier blendend funktioniert?
Willkommen in Österreich?
Niklas