Gestern war es dann soweit: der letzte Schultag war angebrochen. Erst gab es die Schule auf Vordermann zu bringen und darüber zu staunen, wie viel Müll, Staub sowie durchaus nützliche Dinge sich in all den im Alltag unerreichbaren Ecken angesammelt hatten. Tief unter einem riesigen Holzbehälter, in dem unsere geometrischen Pölster der Turnhalle gestapelt werden, fand ich etwa neben einem wohl schon seit Jahren herumschimmelnden Brotstück einige Jonglierkeulen und – was mir besondere Freude bereitete, weil mein letztes beim Straßenmusizieren schon wieder verloren gegangen war – ein Rassel-Ei, das mich wohl nun immer an den Geräteraum der Turnhalle erinnern wird, wenn ich es benutze.
Dann wurden die Zeugnisse verteilt – es waren meine ersten „richtigen“ Ganzjahres-Zeugnisse, und nach den letzten stressigen Wochen, in denen sie zu schreiben waren, war es ein schönes Gefühl, zu wissen, dass sich meine Schüler über jedes einzelne freuen würden, weil ich sie ihnen im Vorhinein schon lesen lassen hatte. Es war ein emotionaler Moment, als einer meiner Schüler, der im Halbjahr noch gemeint hatte, die drei Seiten wären zu viel zum Lesen für ihn, sich nun hinsetzte und durch die nächsten drei Seiten durchkämpfte, weil es ihm im vergangenen Jahr wichtig geworden war, was ich ihm zu sagen hatte. Es war ein noch viel emotionalerer, als ich einem anderen Schüler den für ihn formulierten Text vorlas und dabei merkte, wie wir beide uns ansahen und einfach nur weinen konnten. Das ganze Jahr war er an unserer Schule umhergewandert, in Gedanken versunken, die für sein Alter viel zu groß waren, und kaum hatten wir es geschafft, miteinander zu sprechen. Und doch, uns durch tränende Augen anblickend, war klar, dass wir uns trotzdem stets in einer Tiefe verstanden hatten, die selten war.
Eine Weile war danach nichts zu tun gewesen, und ich setzte mich mit meiner Gitarre auf eine Bank, spielte und sang, um nicht in der Welle der Emotionalität zu versinken, die mich innerlich überrollte. Kinder kamen, lauschten, spielten mit, tanzten. Noch nie in meinem Leben habe ich derart für andere gespielt. Ich liebe sie, jeden einzelnen von ihnen. Und doch, das Ende rückte näher.
Wir saßen auf einer Decke, wir, die wir die Schule verlassen würden, einige Schüler und ein Kollege, der aufbrechen würde, um eine Weltreise zu machen. Umringt von den Menschen, mit denen wir das letzte Jahr die Schule geteilt hatten. Wir dürften hören, was sie uns zu sagen hatten, wünschten. We are the world wurde gesungen, im Surround Sound des Kreises. Liebe von allen Seiten. Ich hatte überlegt, mir eine Ansprache zurechtzuschreiben, dann aber doch gewusst, dass sie von selbst im rechten Moment kommen würde, aus der Tiefe des Moments. Es war still, als ich ansetzte zu sprechen, unüblich still für eine freie Schule. Vielleicht spürten sie, dass es ein feierlicher Augenblick war.
Vor etwa einem Jahr war ich erstmals an diese Schule gekommen, am Ende einer Reise zu vielen Schulen in Österreich und Deutschland, auf der Suche nach einem Ort, an dem ich mich finden würde können, an dem all die Ideen, die mir im Kopf herumschwirrten, Realität werden konnten. Rasch war mir damals klar geworden, dass ich diesen Ort gefunden hatte. Voller Übermotivation war ich also rund 1000km von meiner Heimat entfernt angelangt, an einem Paradies zu bauen. Drei Jahre würde ich mir Zeit nehmen, um diese Schule zur interessantesten Europas zu machen, zu einer Pionierin der Bildungslandschaft. Dann würde ich entscheiden, ob ich weiter bleiben wollte.
Doch nur Mensch
Doch ich hatte zu viele Ideen gehabt, und zu wenig Selbstdisziplin, sie nacheinander einzuführen. Eine Schule ist ein Ort, an dem überall Probleme auftreten können – oder, wie ich es gerne sehe, Möglichkeiten und Potentiale entstehen. Es passiert zu schnell, sich selbst und seine Energiereserven zu ignorieren, wenn man der Faszination des Möglichen erliegt. Und so fühlte ich mich nach einem halben Jahr bereits ziemlich ausgebrannt, ausgezehrt von der Saugkraft der vielen Möglichkeiten hier. Und ich erkannte in diesem Jahr erstmals so richtig, dass wohl kein Mensch (auch ich nicht) fähig ist, angeblich Unmögliches zu leisten, wenn er nicht auf ein soziales Netz zurückgreifen kann, das ihn hält, wenn er droht, zu fallen.
Ich habe es trotzdem versucht, aber bin wunderbar gescheitert. Es war eine harte Erfahrung, aber auch eine sehr wertvolle. Auch ich brauche Menschen, die für mich da sind, wenn es nötig ist. Und diese Menschen sind nicht ersetzbar, sind zu selten, als dass man davon ausgehen kann, dass man schon im rechten Moment welche kennenlernen wird. Nun, in den letzten Wochen und Monaten hier in Kiel, habe ich doch noch Menschen kennengelernt, mit denen ich mich tief verbunden fühle, und die ich vermissen werde, wenn ich nächste Woche wieder nach Österreich zurückkehre.
Ich glaube, ein jeder Mensch braucht etwas, das er Heimat nennen kann, seien es nun andere Menschen, ein Ort oder vielleicht auch ein Gegenstand wie ein Boot oder eine Gitarre, eine Art sicherer Hafen, von dem aus man dann seine Streifzüge in die Welt unternehmen kann. Ich war immer der Ansicht, ich sei mir in diesem Sinne selbst genug, aber ich glaube, das war eher eine Form des Selbstbetrugs denn die Wahrheit. Heimat ist das Gefühl bedingungsloser Liebe, und ich bin wohl noch lange nicht weise genug, mich selbst auch dann bedingungslos zu lieben, wenn ich es am meisten brauche – dann, wenn die Selbstzweifel, die unter normalen Umständen eine durchaus konstruktive Funktion erfüllen, Überhand nehmen. Wenn man den Boden zu verlieren droht, muss das Netz halten, wenn man nicht fallen will, oder schon fliegen gelernt hat. Und meine Flügel tragen noch nicht alleine.
Und doch…
Gestern, nach all den Wochen des Drucks, der Zeugnisschreiberei und den Verabschiedungsfeiern, wurde mir klar, dass ich wohl nirgends in der Welt einen Kritiker finden würde, der meinem inneren Kritiker das Wasser reichen könnte. Was ich mir vorgenommen hatte, war – reflektierend betrachtet – völlig unmöglich in der kurzen Zeit umzusetzen. Und trotzdem: ein riesiger Teil davon ist nun, nach nur einem Jahr, trotzdem gelebte (und auch allseits beliebte) Realität hier an der Schule.
Ich habe mich selbst kritisiert, weil der Umsonstladen nicht in seinem vollen Potential ausgeschöpft wird, und doch wird er von vielen Eltern eifrig benutzt, etwa um Kleidung der jeweils viel zu rasch aus ihnen herauswachsenden Kindern auszutauschen. Ich habe mich selbst kritisiert, weil das Open-Source-Vorgehen, das ich für so sinnvoll halte, immer noch nicht umgesetzt wird (mit allen negativen Konsequenzen), aber es sieht wohl so aus, als seien nun endlich alle Weichen gestellt, dass es in Zukunft auch tatsächlich geschieht. Wir haben die soziokratische Entscheidungsfindung sowohl in der Teamsitzung wie auch der Schulversammlung eingeführt. Wir haben die Schulregeln so überarbeitet, dass das Prinzip der Gleichbehandlung vor dem Gesetz mittlerweile sehr durchgehend wirkt und die Willkür viel weniger geworden ist, und sehen die Effekte auch im Verhalten der Schüler.
Vor allem aber haben wir in diesem Jahr in einem völlig neuen Gebäude, neuen Mitarbeitern und rund 30% neuer Schüler, viele davon Quereinsteigern aus Regelschulen, eine Gemeinschaft aufgebaut, die nun, nach einem Jahr, alle ihre Mitglieder inkludieren und akzeptieren kann. In der die Älteren sich als Vorbilder der Jüngeren wahrnehmen und sich rührend um sie kümmern. Unsere Schüler haben eine innere Disziplin erworben, die ich noch in kaum einer anderen Schule so beobachten durfte, und die weitgehend ohne die äußere Disziplin der Autorität Erwachsener auskommt. Ich bin stolz auf jeden einzelnen von ihnen.
Ich habe etwas zu sagen
Auch ich habe in diesem Jahr viel gelernt. Das für mich überraschendste und gleichzeitig auch bereicherndste war aber wohl die Erfahrung, dass all die Ideen, die seit Jahren in meinem Kopf umherschwirren oder aus der Situation entstehen, auch in der Realität Sinn ergeben. Als ich vor einem Jahr hierher gezogen bin, hatte ich gerade mein Studium abgeschlossen und war ein junger Mann mit großen Ideen, die man gut finden konnte oder eben nicht. Jetzt aber, nach einem Jahr, kann ich guten Gewissens sagen: das sind meine Ideen. Du musst sie nicht gut finden. Aber sie funktionieren, und ich kann es beweisen. Vieles ist schwieriger, wie ich es mir vorgestellt hatte, braucht mehr Betreuung, mehr Führung, um das Potential wirklich auszuschöpfen, und leider waren unsere personellen Ressourcen im letzten Jahr oft zu knapp, um dies leisten zu können. Aber sie funktionieren.
Eine weitere Erfahrung war für mich überraschend: meine Art, zu denken, und die Ergebnisse dieses Denkens sind etwas Besonderes. Mir war immer bewusst, dass ich viele Bücher lese und mich mit Dingen beschäftige, auf die andere vielleicht gar nicht kommen würden. Aber wie besonders meine Gedanken manchmal zu sein scheinen, hat mich doch sehr verblüfft. So viel von dem, was für mich völlig logisch und gar nicht erwähnenswert erscheint, ist für andere augenscheinlich eine bahnbrechende Idee. Oft habe ich in der Vergangenheit geschwiegen, weil ich geglaubt habe, dass meine Ideen so einfach sind, dass sie wohl schon angedacht und verworfen worden waren. Nun habe ich die Erfahrung gemacht, dass sie einen Wert haben, wert-voll sind. Ich habe etwas zu sagen. Etwas zu geben, das andere wollen, das andere brauchen. Der Gedanke ist noch neu für mich, noch schwer zu fassen, zu glauben. Aber auch wunderschön.
Vor etwa einem Jahr meinte eine Freundin zu mir, es wäre doch dumm, ins Ausland zu gehen, nur weil hier in meiner Heimat gerade kein passender Job in Aussicht wäre. Ich solle doch einfach hier bleiben, dann würde sich schon etwas auftun. Ich habe hier gelitten, ich habe hier gekämpft, manchmal auch geweint, mich einsam gefühlt und mich gefragt, was ich hier überhaupt mache. Aber auch gelacht, gefühlt, erfahren. Festgestellt, dass das, was ich hier mache, vermutlich das sinnvollste ist, das ich gerade machen konnte. Ich habe zum ersten Mal auf öffentlichen Veranstaltungen eine Lesung meiner Geschichten gemacht. Ich habe viel über die Liebe gelernt, über Heimat und das Leben im Allgemeinen. Ich bin ein Stück weiser geworden, und habe ein Stück sinnlosen Ballast, der sich als Weisheit getarnt hatte, abwerfen können.
Ein Ausblick
Nun geht es nächste Woche zurück nach Österreich, und es wartet eine neue interessante Herausforderung auf mich, und zwar diesmal an einer Regelschule. Ich habe mir oft gedacht, dass das, was ich hier schreibe, für Lehrer an Regelschulen völlig utopisch klingen muss, und sie das Gefühl haben, das sei an ihren eigenen Schulen unmöglich. Doch irgendjemand hat mir mal den schönen Spruch geschrieben: „Alle sagten, das ist unmöglich. Dann kam einer, der hat das nicht gewusst, und hat es getan.“ Ich will zeigen, dass es auch an Regelschulen möglich ist, viel von dem umzusetzen, was wir hier erreicht haben.
Ich habe in diesem Jahr gelernt, dass wir in all unseren Plänen und Visionen oft ordentlich an der Realität verzweifeln können, die uns die Unmöglichkeit der vollendeten Verwirklichung gnadenlos aufzeigt. Vor allem aber durfte ich lernen, dass es trotz dieser scheinbaren Unmöglichkeit wertvoll ist, es zu versuchen, mit aller Macht und Energie, die einem zur Verfügung stehen. Dass es immer Menschen geben wird, die mit dem Ergebnis unzufrieden sind, und dass der erste dieser Menschen meistens der eigene innere Kritiker ist. Aber auch, dass es immer Menschen (und in diesem Fall sind es wohl in der Masse die Schüler, um die es bei einer Schule ja auch gehen sollte) gibt, die wertschätzen, wofür man sich bemüht, und dort, wo sie können, plötzlich anfangen, mitzuhelfen, den Traum Realität werden zu lassen. Und wo dieser Prozess losgetreten wird, ist plötzlich nichts mehr unmöglich.
Denn am Ende jedes Weges bleibt Staunen, was eben eben dann doch alles möglich war.
Niklas