Vor allem seit dem Einbruch des Winters mit tagelangen Regenschauern hier in Curitiba ist die Verlockung gross, Stunden und Tage in der heimeligen Umgebung des Apartments zu verbringen. Warm ist es hier zwar mangels Heizung ebenso wenig wie vor der Tür, aber eingekuschelt in einige Decken lässt es sich schon aushalten. Heute etwa besuchte mich ein Freund, mit dem ich eigentlich in den Strassen Curitibas Gitarre spielen wollte, und kuschelte sich in meine Decken. Wenn ich ihn nicht (metapherhaft) etwas in den Hintern getreten hätte, hätte er wohl den restlichen Nachmittag in meinem Bett verbracht.
Als wir dann den ersten Schritt vor die Tür hinter uns hatten, schlug die Stimmung schnell um. Da wir die letzten Tage ein wenig verkühlt gewesen waren und deswegen unsere musikalische Leistung nicht so berauschend gewesen war, war es heute, wieder gesundet, eine Freude, zu singen. Zwei ältere Herren, einer mit Gitarre, spielten eine Weile mit. Andere setzten sich einfach so dazu und hörten zu. Kleine Kinder tanzten den für diese Altersgruppe so typischen Hintern-Tanz (schwer zu beschreiben, aber sehr süss). Manche warfen uns auch einige Münzen in unseren Becher, aber darum ging es nicht. Es ging darum, etwas an die Welt geben zu können, diese Welt ein Stück bunter zu machen.
Begegnungen der Strasse
Immer wieder konnten wir auch eine junge Frau mit seltsam angemalten Gesicht beobachten, die irgendwelche Hare Krishna-Bücher an Passanten andrehen wollte. Leider war sie, als wir aufbrachen, schon weg, sonst hätte ich sie gerne gefragt, ob sie mir ein wenig über diese Sekte erzählen kann. Nachdem ich (ebenso auf der Strasse, aber in einer anderen Stadt) einen Koran in Englisch geschenkt bekommen hatte, wäre es fast dämlich, diese Chance nicht auch zu nutzen. Hoffentlich ist sie in den nächsten Tagen auch wieder hier.
Gestern wanderte ich die XV de Novembro, die Haupt-Einkaufsstrasse hier, entlang, um in der öffentlichen Bibliothek im Strassenbahnwaggon ein Buch über indigene Sagen zu lesen. Einige Menschen, die uns augenscheinlich schon öfter Gitarre spielen gehört hatten, imitierten eine Gitarre und winkten mir zu. Einer der zahlreichen Menschen, die hier mit Mikrofon herumlaufen und die neuesten Angebote eines Geschäfts anpreisen (ein für mich völlig absurder Job), dieser mit einer Art Poncho mit einem Angebot für ein Buffet um fünf Reais, winkte mich zu ihm und spielte mir auf seinem Walkman I love rock’n’roll von Joan Jett vor.
Während ich weiter durch die Strassen schlenderte, winkte mir ein Mann mit verspiegelten Sonnenbrillen und meterlangen Dreadlocks zu, der sich als ebenso sympatischer Mensch herausstellte. Auch beim Zurückgehen freute er sich augenscheinlich wieder, mich zu sehen. Es ist schwer zu beschreiben, warum, aber jedes Mal, wenn ich vor die Tür und diese Strasse entlang gehe, einigen der immer gleichen Gesichter in den Geschäften oder auch sympatisch aussehenden Passanten ein Lächeln schenke (und oft auch eines geschenkt bekomme), fühle ich mich danach erfrischt und voller Lebenskraft.
Keine Ausreden
Vor ein paar Tagen war ich krank, hustete stark und es regnete in Strömen. Aber gemäss meiner Erfahrungen, dass es bisher jedes Mal eine interessante Erfahrung war, vor die Tür zu gehen, vor allem, wenn man krankheitsbedingt bereits genug Zeit in seinem Zimmer verbracht hatte, ging ich trotzdem (gut eingepackt) vor die Tür. Nachdem ich eine Weile rund um den Park gelaufen war, traf ich meinen speziellen Sandlerfreund, über den ich schon einiges geschrieben habe, wieder, der mir erzählte, er hätte es nicht geschafft, zu seiner Fliesenleger-Arbeit zu kommen, die ihm aus seinem Sandler-Dasein helfen sollte, weil er es nicht geschafft hatte, das Geld für den Bus zusammenzubringen. Er hatte es zwar bereits gehabt, aber solchen Hunger bekommen, dass er etwas gegessen hatte und sich dabei verrechnet habe. Er ist wohl ein wenig ein Chaot, aber dass so etwas passiert, hätte ich mir auch nicht vorstellen können.
Man braucht nicht immer einen Grund, um vor die Tür zu gehen, nicht immer ein Ziel. Tatsächlich ist die Chance auf einer dieser interessanten Begegnungen in meiner Erfahrung weit grösser, wenn man kein bestimmtes, rasch zu erreichendes Ziel hat. Hinausgehen, sich bewegen, und über die Welt staunen. Es ist in dieser Hinsicht ein wenig wie eine Entdeckungsreise. Auch in einer Stadt, in der man seit Monaten lebt, kann man, wenn man sich darauf einlassen will, immer wieder interessante neue Details entdecken.
Ich glaube, ein jeder braucht immer wieder auch Zeiten, in denen man alleine, ungestört man selbst sein kann. Aber ich kann mich noch gut an die vielen Tage in Österreich erinnern, an denen ich in meinem Zimmer sass, mich langweilte und doch diesen Schritt vor die Tür nicht tat. Vermutlich ist dies hier in Brasilien weniger verbreitet (und durch die dünnen Wände im Apartment gibt es so oder so kaum echte Privatsphäre), aber es ist eine der Angewohnheiten, die ich mir auf jeden Fall erhalten möchte: Mindestens ein Mal am Tag Entdecker vor der eigenen Türe zu sein.
Und wir ernten mit der Zeit die Früchte dieser Begegnungen.
Jemand freut sich, dass wir da sind.
Lächelnd, und mit Freude im Herzen
Entdecken wir unsere Welt –
Und damit uns selbst.
Niklas