Aaron, die Hacker-Schnecke

(Letztes Update von Niklas Baumgärtler am 26.5.2021)

Als HTL-Schüler hatte ich ein Problem. Ich wollte eigentlich nur lernen, wie man Computerspiele programmiert. Mir wurde das sogar von der Schule versprochen, bevor ich mich dazu entschieden hatte, diese Schule zu besuchen. In der Realität ließen uns die Lehrer stets nur Wirtschaftsprogramme erstellen, die aber so viel Zeit verschlangen, dass es schwer war, in der Freizeit noch mit der Entwicklung meines Computerspiels fertigzuwerden. Die Lösung für mich war es dann, einen guten Teil des Unterrichts, der mich sowieso in vielen Fällen langweilte, dazu zu nutzen, heimlich Algorithmen zu entwerfen oder die Geschichte unseres Spiels weiterzudenken. Manchmal fiel es den Lehrern auch auf, und sie werteten es (völlig korrekt) als „Nicht Aufpassen“. Aber sobald ich aus eigener Erfahrung verstanden hatte, dass ich das, was die Lehrer mir beibringen wollten, auf eigene Faust meist viel rascher lernen konnte, konnten sie mir kaum mehr etwas anhaben. Immerhin erbrachte ich die Leistungen. Damals wusste ich es noch nicht zu benennen, aber heute kann ich es: ich hatte das System gehackt.

Und in diesem Geist findet sich auch eine mögliche Lösung auf die (durchaus begründeten) Ängste vieler Eltern, ob es denn nicht gefährlich sei, Kindern die Erfahrung zu ermöglichen, in einem freien (oder freieren) System zu lernen, als es die Regelschule hergibt. Was, wenn sie mit der Folgeschule überfordert sein werden? Wenn die Folgeschule mit ihnen überfordert ist? Wenn es gelingt, Kindern vor Augen zu führen, dass sie sich innerhalb eines sozialen Systems bewegen, das sie für sich hacken können, um ihren Bedürfnissen besser zu entsprechen, werden sie zukünftig mit einem jeden sozialen System zurechtkommen, in dem sie sich wiederfinden werden. Üblicherweise lernen die meisten Kinder ohnehin von selbst, wie sie ihre Schulklasse „hacken“ können, manche über einen „legalen“ Weg, der den Mitschülern und dem Lehrkörper gefällt, manche über dem „illegalen“, der für Konsequenzen sorgt. Aber in irgendeiner Form sind alle Kinder notorische Hacker.

Was würde also passieren, wenn man ihnen entsprechend entgegenkommt, und ihnen dieses Hacken erleichtert, davon ausgeht, dass sie es machen, und es sogar fördert? Begünstigende Faktoren sind sicherlich das Herstellen einer gewissen Berechenbarkeit (Rechtsstaatlichkeit), der Transparenz, das Schaffen legaler Möglichkeiten, unerfüllte Bedürfnisse konstruktiv zu kanalisieren und das Trainieren des „guten Hackertums“. Was viele nicht wissen: es gibt tatsächlich so etwas wie eine Hacker-Ethik. Ich habe mich bemüht, diese Hacker-Ethik in eine Art Algorithmus umzuschreiben, der auch Kindern vermittelbar sein sollte. Und zwar besteht dieser Algorithmus aus 7 Fragen, die eine Art Hacker-Spirale ergeben:

aaron plakat
Aaron fühlt sich sichtlich wohl in seinem Lösungs-Algorithmus.

1. Problem erkannt?

Dies ist sozusagen der Startpunkt des Algorithmus. Ein Problem wurde erkannt, das mich „anspricht“, dessen Lösung ich mich annehmen möchte. Je genauer mir das Problem erkannt ist, desto einfacher wird es in späteren Schritten sein, die Lösung zu finden. Es macht also durchaus Sinn, mit diesem Schritt eine gewisse Zeit zu verbringen.

In meinem Eingangsbeispiel besteht das Problem darin, dass ich eigentlich ein Computerspiel programmieren will, aber a) nicht weiß, wie das geht und b) in der Schule kaum etwas lerne, was mich diesem Ziel näher bringt.

2. Wen betrifft es?

Wen betrifft das Problem? Wen könnte ich in eine mögliche Lösungsfindung einbeziehen? Wer hat möglicherweise schon eine Lösung gefunden?

In meinem Beispiel betrifft es mindestens zwei weitere Schüler, die ebenso mit mir gemeinsam unser Computerspiel programmieren möchten. Bei den sehr zeitaufwendigen Programmier-Hausübungen gab es oft bereits andere Schüler, die die Hausübung fertig hatten – diese konnte man als Grundlage der eigenen nehmen bzw. sich durch Ansehen einiges an Denkarbeit ersparen.

3. Mögliche Lösung?

Was könnte eine mögliche Lösung sein? In diesem Schritt ist es durchaus möglich, mehrere Lösungen in einer Art von Brainstorming durchzuüberlegen und zu träumen.

In meinem Beispiel ist es eine Lösung, dort weniger Aufmerksamkeit dem Lehrer zukommen zu lassen, wo ich ohnehin weiß, dass ich das Erklärte selbst rascher lernen kann, und die Zeit zur Planung des Computerspiels zu nutzen. Außerdem ist es möglich, dass immer nur einer der Gruppe für alle Mitglieder aufpasst und das Gelernte danach den anderen erklärt, während die anderen beiden sich weiter mit unserem Projekt beschäftigen. Ich habe damals auch ein Forum online gestellt, in dem ein jeder unserer Klasse die erledigten Programmier-Hausübungen online stellen konnte. So haben wir viel Zeit eintespart.


4./5. Wen betrifft diese Lösung? Welche Konsequenzen hat diese Lösung für die Betroffenen?

Würde ich diese Lösung des Problems umsetzen, wer würde davon betroffen sein? Oftmals ist uns überhaupt nicht bewusst, wie viele Menschen eigentlich von unserem Handeln betroffen sind, an die wir nie denken würden. In vielen Fällen wird der 5. Schritt mit dem 4. Zusammenfallen – bei komplexeren Problemen kann es aber durchaus Sinn machen, die beiden zu trennen, um sich vorher genau Gedanken zu machen, wen es tatsächlich betreffen könnte.

Mein Forum betraf damals auch alle meine Mitschüler, die sich für das Service sehr dankbar zeigten. Sie betraf (auch wenn mir das damals nicht so bewusst war) auch die Lehrer, die sich möglicherweise von unserem Nicht-Aufpassen gekränkt gefühlt haben. Einmal brachte ich einen Programmier-Lehrer versehentlich zum Weinen, weil ich ihm sagte, dass wir seine Muster-Lösungen nie ansahen, da die unseren viel übersichtlicher waren. Hätte mir diese Konsequenz vorher jemand erlärt, hätte ich ihn wohl ausgelacht. Damals waren Lehrer für mich noch völlig unemotionale Dinger, keine echten Menschen wie ich selbst einer wahr. Das kommt wohl von der dämlichen Idee, die eigene Authentizität mit dem Überstreifen der Lehrer-Rolle abzustreifen. Ich hätte wohl noch viel bessere Lösungen gefunden, wäre mir früher klar gewesen, dass auch Lehrer Gefühle haben.

6. Ist diese Lösung für alle Betroffenen gleich gut oder besser?

Die Beurteilung der Konsequenzen von dem Überlegen der Konsequenzen selbst zu trennen kann helfen, zu einer objektiveren Einschätzung zu gelangen. Befürchtete negative Konsequenzen können sonst entweder gar nicht bedacht werden, um die Lösung nicht zu gefährden. Oder Lösungen, die nur noch ein wenig Mehrarbeit bräuchten, werden von vornherein als undurchführbar abgetan, „weil sonst X beleidigt auf mich sein könnte“. Möglicherweise fühlt sich X aber gar nicht so gestört von meiner Lösung – ich könnte ihn ja fragen. Oder ich finde eine nur leicht adaptierte Lösung.

Einerseits waren meine Mitschüler sehr dankbar über dieses Service, andererseits zeigte sich auch, dass einige von ihnen ihn nicht nutzten, um für andere, ihnen wichtigere Projekte Zeit freizuschaufeln, sondern um mehr Zeit für gefühlt weniger produktive Tätigkeiten wie Fernsehen zu haben. In gewisser Weise habe ich mit meinem Forum damit auch die Bequemlichkeit meiner Mitschüler mitunterstützt.

Ich hätte, sobald ich festgestellt habe, dass viele das Forum nutzen, um ihre Bequemlichkeit zu fördern, das Forum wieder abdrehen können. Immerhin gefährdete ich damit ein Stück weit ihren Lernerfolg. Aber schon damals hielt ich viel auf Selbstverantwortung, und diejenigen, die es gerne bequem hatten, hätten auch so Wege gefunden, unangestrengt durch die Schule zu kommen. Es handelte sich um ein Angebot, das niemand nutzen musste.

7. Entstehen dadurch weitere Probleme (für mich)?

Sind die Konsequenzen so negativ, dass dadurch weitere Probleme entstehen, die mir wichtig genug sind, dass ich sie lösen möchte? Dies kann sein, weil die Konsequenzen mich direkt betreffen, oder weil es Probleme für andere Menschen bereitet, die mir wichtig sind. Tendenziell werden jüngere Menschen wohl eher darauf achten, dass keine weitere Probleme für sie selbst entstehen, während ältere, weisere Menschen von vornherein mehr andere Menschen und ihre Bedürfnisse in ihr Handeln einbeziehen werden.

In unserem Beispiel sind dadurch keine weiteren für mich wahrnehmbaren Probleme entstanden, oder zumindest hatte ich keine negativen Konsequenzen daraus mehr. Das Problem war erstmal gelöst. Ergäben sich daraus weitere Probleme, wäre ich wieder bei Schritt 1 angelangt.

Was uns Aaron, die Hacker-Schnecke, sagen will

Beim Zeichnen der Spirale fiel mir auf, dass der spiralförmige Pfeil einem Schneckenhaus ähnelt – schon war mein Maskottchen dieses Algorithmus geboren. Den Namen Aaron wählte ich zu Ehren des bekannten Hackers Aaron Swartz. Mir gefällt auch die Analogie der Schnecke außerordentlich gut. Schnecken sind bekanntlich langsam, bedächtig. „Bedächtig“ kommt von Denken. Gutes Problemlösen erfordert eben nachdenken – und Zeit. Und Aaron – ganz die erfahrene Hacker-Schnecke – nimmt sich die Zeit einfach: „Ich nehme mir Zeit für gute Lösungen. Am Ende bin ich so schneller. Und glücklicher“, sagt er.

Im Grunde lassen sich beinahe alle zwischenmenschlichen Probleme als Folge eines nicht oder nur zu wenig bedachten Schrittes dieser Hacker-Spirale beschreiben. Möglicherweise wurde ein Problem noch gar nicht als Problem erkannt (und führt wegen Nicht-Lösung zu größeren Problemen). Möglicherweise wurden nicht alle Betroffenen identifiziert, und diese beschweren sich plötzlich über ein Verhalten, das sie stört. Oder es wurde nicht bedacht, ob die Lösung für alle Betroffenen gleich gut oder besser ist. Oder ob dadurch nicht noch weitere Probleme entstehen könnten. Im Sinne der radikalen Selbstverantwortung würde ich es den Kindern auch freistellen, Aaron’s Rat zu ignorieren. Solange daraus keine Probleme für sie entstehen, ist es ja in Ordnung. Und entstehen Probleme, lässt es sich schön auf Aaron verweisen.

Diese Hacker-Lösungs-Spirale ist ein Werkzeug, Probleme zu lösen und weitere Folgeprobleme, die aus unzureichend durchdachten Lösungen entstehen, zu verhindern. Sie setzt voraus, dass der Anwender fähig ist, sich in andere Menschen ein Stück weit hineinzuversetzen und – ähnlich wie beim Schach – gewisse Reaktionen auf eigenes Handeln zu antizipieren. Vor allem kleine Kinder werden damit möglicherweise überfordert sein. Aber das ist durchaus ok. Auch eigene Erfahrungen zu machen wird sie in den meisten Fällen irgendwann zum selben Ziel führen. Aaron kann aber jenen, die sich dafür interessieren, einige Abkürzungen auf diesem sonst mit vielen Enttäuschungen und Konflikten gespickten Weg aufzeigen.

Niklas

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Niklas Baumgärtler

Niklas Baumgärtler interessiert sich für die Kunst der Begeisterung und macht gerne Wechsel- und Hebelwirkungen in Sozialen Systemen sicht- und erlebbar. Mehr über Niklas Baumgärtler...

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