„Ich geh noch kurz eine rauchen“, meinte sie, ihn mit seinen Gedanken alleine lassend. Sie wusste, wie sehr er den schalen Geschmack der Rauchteilchen hasste, aber es war ihr Leben. Wusste ebenso sehr, dass es im Grunde nicht um ihn ging, sondern um andere Menschen in anderen Zeiten. Dass es ihm am Ende genauso wenig um den Ekel vor einem schalen Geschmack ging wie ihr um den zweifelhaften „Genuss“ desselbigen. Rauchen, das war ein Symbol des Widerstands, ein Symbol der Selbstständigkeit, der Wahl. Es war die anständige Wahl, diejenige, die von der Gesellschaft zwar offiziell verurteilt, aber doch als „kleine Schwäche“ geduldet wurde. Eine zu rauchen, das war kontrollierter Kontrollverlust, war weit entfernt von tatsächlicher Hilflosigkeit. War – in Maßen konsumiert – das Gegengift, ein gesellschaftlich akzeptiertes Mittel, mit Stresssituationen umzugehen oder einfach nur in einer Masse anonymer Menschen ein Stück Gemeinsamkeit zu finden. Der Rest verglüht, Bedürfnis erfüllt. Zurück ins Gefecht.
Er hasste den Geschmack des Rauchs, wenn er sie küsste, und in Verbindung mit dem Geschmack von Zahnpasta oder anderer Mundraum-spülender Mittel, die sie ihm zuliebe verwendete, wurde er meist nicht besser. Aber darum ging es auch ihm im Grunde nicht. Rauchen, das war auch für ihn ein Symbol, mit seiner eigenen Geschichte und seinen eigenen Vorurteilen. Es war an sich schon schwierig, durch ihre inneren Muster zu dringen, noch schwerer war diese Aufgabe ausgehend von dem Dickicht seiner eigenen. Es waren Stellvertreterkriege, die sie ausgefochten hatten, und nicht einmal das. Ein Kratzen an Oberflächen, unter denen heimtückischere Muster lauerten, ererbt in Jahrtausenden der Prägung – zu erdrückend, um mit wenigen Worten hinweggewischt zu werden, und zu beängstigend, sie direkt anzusprechen. Wer wusste schon, was liegen mochte hinter den Dornenranken der Scham?
Also vertieften sie sich in gesellschaftspolitische Diskussionen, fochten über das Recht der Frau, in ihrer Rolle als Mutter mehr gewürdigt zu werden, steckten die Schlachtfelder ab, fochten mit heiligem Zorn im Wissen ihrer Rechtschaffenheit – und doch wieder an ihren Bedürfnissen vorbei. Siege schmeckten schal, wenn nur gewonnen wurde, was in Wahrheit nicht weiterhalf. Was entschuldigte die Liebe? Was rechtfertigte Schuld? Am Ende ruhten die Waffen, und die Kontrahenten gingen einstweilen ihrer Wege, zu leise schreiend, zu sehr auf irrationale Hoffnungen vertrauend, der andere möge erraten, erretten, was einem selbst nicht auszudrücken möglich war. Hoffnungsvoll aufbrausend, nur um später erschöpft nach Luft zu schnappen, mit dem Gefühl, zusammen alleine gewesen zu sein. Da war Liebe füreinander in ihnen, ein unerschöpflich scheinender Quell von Kraft, und doch oft so wenig ausreichend, so aussichtslos im Angesicht der unüberwindbar scheinenden Mauern, die das Herz von der Quelle der Eigenliebe trennten.
So war am Ende doch dies der einzig wahre Kampf: sich selbst lieben zu lernen, sich selbst freizumachen von all den Handlungen, die man glaubte, ausführen zu müssen, um sich selbst nicht liebenswert fühlen zu dürfen. War es doch jener Satz, der ihm Erleuchtung geworden war: Ich bin es wert. Wert, sich wohlzufühlen in seinem Körper, wert, sich geliebt zu fühlen von den Menschen, mit denen er sich umgab, wert, von ihnen respektvoll behandelt zu werden, ohne sich ihren Vorstellungen eines wertvollen Menschen anpassen zu müssen. Es war einfach, sich anzupassen, schwerer, das Gegenteil zu tun und am allerschwersten, wirklich frei von jenen äußeren Bezugspunkten zu entscheiden. Doch am Ende war er es, der die Eckpunkte seiner Wertewelt zu bestimmen und zu verteidigen hatte, selbst vor seinen eigenen Gewohnheiten und Bequemlichkeiten. Von außen aufgezwungene Disziplin mochte problematisch sein, aber Disziplin an sich war hilfreich, sogar manchmal notwendig für ein erstrebenswertes Leben.
Am Ende, auch wenn es schwer zu akzeptieren war, weil es Verantwortung mit sich brachte, waren sie beide frei, die Menschen zu sein, die sie zu sein gedachten, auch wenn jahrtausendealte Prägung ihnen anderes zu befehlen schien, solange sie die Konsequenzen zu tragen bereit waren. Sie konnten für das Recht, eine Zigarette rauchen zu können, kämpfen – gleichsam wie für alle anderen Dinge, von denen Menschen üblicherweise nur zu träumen wagen aber selten sprechen. Die Entscheidung, wofür es sich in Wahrheit zu kämpfen lohnte, lag bei ihnen.
„Wie fühlst du dich?“, sagte sie, zu ihm zurückkommend, aus der emotionalen Distanz, die die Rauchschwaden üblicherweise begleitete.
„Verliebt“, antwortete er, dem Drang ihrer inneren Muster, für ihr Rauchen geliebt wie verurteilt zu werden, nur zum Teil befriedigend. „Frei“, sie in den Arm nehmend, und als ihr verwunderte Tränen über ihr sich öffnendes Gesicht liefen: „Glücklich.“
„Warum?“, sagte sie, wohl hoffend, sie wäre der Grund. Und er liebte diese Frau wie kaum etwas in dieser Welt. Doch der wahre Grund, das spürte er nun, lag tiefer.
„Weil ich mich dafür entschieden habe.“