Schon lange hatte er den alten Bekannten nicht mehr gesehen gehabt, der ihn jetzt unverbindlich grüßte. Vor Monaten – oder waren es bereits Jahre? – hatten sie mal einige Wochen hintereinander miteinander gesprochen, Freude aneinander gefunden. Auslöser war ein Apfelstrudel gewesen, den er – wie fast jedes Mal, wenn er sie besuchte – von seiner Oma bekommen hatte und den er dann ins Lokal mitnahm, um ihn zu verteilen. Der andere hatte damals zufällig Geburtstag gehabt und sich besonders darüber gefreut. Zum Ausgleich hatte er ihm als DJ des Lokals einige Wunschlieder mehr gespielt, und so hatte sich so etwas wie eine Bekanntschaft entwickelt. Doch in Ermangelung von Apfelstrudeln war der Kontakt dann irgendwie abgebrochen, mehr zufällig geblieben als Ausdruck einer tatsächlich vorhandenen Verbindung. Nun, als der andere vor ihm stand, folgte er einem inneren Impuls und schlug vor, doch auf die Treppe zu wechseln. Dort war die Musik zwar noch hörbar, aber in einer Lautstärke, die ein Gespräch ermöglichte.
Zwei Stunden später fiel ihm erst auf, wie intensiv das Gespräch geworden war. Der andere war vor Monaten in die Politik gegangen, um zu verändern, und war gescheitert – aber keineswegs verbittert. Rasch waren Bezüge zur eigenen Situation hergestellt, war das Gespräch zu einer Art von Mentor-Gespräch geworden. Erst jetzt war ihm aufgefallen, dass er seine eigene Sache zwar für sich vehement verteidigte und Lösungen zu finden suchte, aber mit kaum jemand darüber sprach. Als würde er sich nicht getrauen, offen darüber zu sprechen, oder als würde es ohnehin niemanden interessieren. Doch der alte Bekannte interessierte sich außerordentlich dafür, stellte kluge Fragen, bot mögliche Lösungswege für verzwickte Situationen an und teilte seine Erfahrungen in ähnlichen Situationen. Irgendwann wurde es doch zu kalt auf der Treppe, und sie trennten sich, erfrischt von der unerwarteten Tiefe des Gesprächs.
Eine Weile später lernte er einen jungen Mann kennen, der ihn in ein Gespräch über Flüchtlingsfragen und die diesbezüglichen Fragen betreffend dem Bildungssystem verwickelte, und stellte fest, dass er dazu einiges beizutragen hatte. Rasch entwickelte sich das nächste tiefe Gespräch. Und wieder einige Zeit später traf er noch einen alten Bekannten, mit dem er – nun geübter darin – nicht nur seine Erfahrungen, sondern auch seine Sorgen, Herausforderungen und Visionen teilte, und merkte, dass dies auch den Bekannten veranlasste, sich ihm mehr zu öffnen. Alle hatten sie ihre Sorgen, Enttäuschungen, alle ihre Hoffnungen, die sie verbanden – und ab dem Moment, an dem er auch die seinen mit ihnen teilte, entdeckte er darin den Schlüssel zu dieser Verbundenheit wieder, den er vor so vielen Jahren einst in den Wirren des vermeintlichen Erwachsenwerdens verloren hatte.
Damals, enttäuscht von der Erfahrung, dass selbst die tiefsten Bindungen nicht standzuhalten schienen, wenn er seine ganze innere Welt mit anderen Menschen zu teilen versuchte und nicht nur die schön lackierte Seite, hatte er für sich beschlossen, „erwachsen“ zu werden, un-abhängig, selbstständig. Irgendwann jedoch war ihm zunehmend bewusst geworden, dass seine Art der Selbst-Ständigkeit dazu führte, dass er in Wahrheit ständig nur auf sich selbst bezogen war, sich nur um sich selbst zu kümmern vermochte. Weil die Erfahrung ihn lehrte, dass sich niemand, selbst die älteren, wohl doch weiseren Erwachsenen, im tiefsten Inneren um andere Menschen scherten. Wohl übernahmen sie Verantwortung, erfüllten die Pflichten, die Gesetz und gesellschaftliche Normen ihnen auferlegten. In Wahrheit war der Mensch am Ende aber doch allein, und hatte sich wohl damit abzufinden. Darin bestand die Weisheit der Welt, und innere Größe darin, sie zu akzeptieren.
Nun jedoch, nach jener intensiven Nacht nachhaltig berührt, ließ ihn ein Gedanken nicht los: was, wenn er die Wahrheit verkannt hatte? Was, wenn nicht die Welt ihm verwehrte, mit ihr verbunden zu sein, sondern er es schlicht nicht mehr zuließ? Es war ein quälender Gedanke, der alten Schmerz und mit ihm noch viel älteren Schmerz aus der Tiefe hervorbrechen ließ. Doch auch wenn der Automatismus, den er im Laufe der Jahre entwickelt hatte, ihn davor schützte, den Schmerz zu fühlen, war nun etwas anders. Er wusste nun, dass er sein Leben auf einen Schutzmechanismus baute. Ihm vielleicht sogar sein Überleben verdankte. Aber zu welchem Preis? War es wirklich weise, Leid zu vermeiden, wie die Buddhisten zu behaupten schienen, wenn der Preis dafür war, sich von allem in der Welt abzuschotten?
Erschüttert erkannte er nun, dass er Herr über sein Leben war – selbst über seine Einsamkeit. Dass sein Grundsatz der radikalen Selbstverantwortung möglicherweise nur eine ins Gegenteil verkehrte Reaktion auf übergriffige Erfahrungen war, eine Art Vergeistigung eines akuten Problems, die aus einem konkreten, unerfüllten Bedürfnis eine starre Ideologie geformt hatte, die selbst er als Urheber kaum mehr zu durchbrechen vermochte. Seine Gedanken waren klar gewesen. Messerscharf hatte er die Begriffe herausgearbeitet, die Handlungsanweisungen seiner Ethik daraus abgeleitet. Es klang sehr einleuchtend, was er daraus zog, und vermied viele unnötige Konflikte.
Aber – und das erkannte er nun mit Erschaudern – es hatte auch die notwendigen Konflikte verhindert. Jene, an denen er hätte wachsen können. Aus seiner Maxime des friedvollen Umgangs miteinander war die Diktatur eines erzwungenen Friedens geworden – mitsamt friedfertigem Abbruch der Beziehungen, wo es notwendig war, um Konflikte gar nicht erst entstehen zu lassen, bis hin zu seiner letzten grandiosen Idee, den Kontakt dort gar nicht mehr entstehen zu lassen, wo den Frieden gefährdende Folgen abzusehen waren. Und so hatte er in einer friedlichen, unanstrengenden Welt gelebt und sich beizeiten über jene leicht amüsiert, die noch in jener anderen, konfliktbehafteten und oft grausamen Welt lebten. Nur: das war eben der springende Punkt. Sie lebten in einer anderen Welt. Er lebte in einer anderen Welt, die er sich für sich geschaffen hatte und in die ihm kaum jemand zu folgen vermochte, weil er weder Lust verspürte, sie zu verlassen noch Lust verspürte, andere einzulassen. Kein Wunder, dass er sich oft einsam fühlte.
Aber das war nun vorbei. Wenn es stimmte, was Raul Seixas in seinem Lied besang, dass jeder Mensch ein Universum war, dann gab es auch außerhalb seiner schönen Welt noch einiges zu entdecken, einige Freundschaften zu schließen und an einer gemeinsamen Welt zu bauen, die sich für alle gemeinsam wohlig und behaglich anzufühlen vermochte. Dazu brauchte es alle, auch ihn. Es war an ihm, seine Geschichte zu erzählen, und an ihm, den ihren zuzuhören. Auch, um sich gegenseitig zu helfen, Probleme zu lösen, was er all die Jahre gerne getan hatte. Aber zuallererst, um sich gegenseitig ganz persönliche Geschichten zu erzählen, von sich zu erzählen, von der einzigartigen Sicht der Dinge, die ein jeder mit sich trug und die dazu beitrug, die Welt reicher zu machen. Dies – so erkannte er nun nach einer wild durchträumten Nacht – war eine notwendige Essenz des gemeinsames Seins, ohne die all seine Klarheit und sein Frieden nutzlos war: zu teilen, was man sah, was man fühlte, was einen belastete, worauf man hoffte. Zu teilen, und damit nicht mehr einsam, sondern gemeinsam zu sein.
In einer Welt und Zeit, in der es üblich geworden war, alles zu teilen außer das, was tatsächlich gerade in einem wohnte, würde es schwer sein, eine Lanze für das wahre Innere zu brechen, ihm Raum zu geben. Dieser Raum, so sagte man sich, war das Private, das Heimliche, das Für-Sich-Sein. Und doch brauchte es genau diesen Raum auch im Öffentlichen, das spürte er nun deutlich. Es brauchte die Mutigen, die ihre Tränen zu zeigen vermochten, wo Tränen angebracht waren, brauchte den öffentlichen Raum für den Schmerz, die Hoffnung, das Echte. Brauchte er selbst ihn. Und gerade darum war es auch seine Aufgabe, diesen Raum für sich und andere zu schaffen wie ihn auch einzufordern. Es war Zeit, hinter die Schutzmechanismen zu blicken. Die starren Ideologien zu durchbrechen und wieder in eine Art von Fluss zu kommen. Lebendig zu werden. Sofort sprang wieder der Mechanismus an, wollte ihn schützen – doch wovor? Und was konnte ihn noch erschüttern, wenn er nicht mehr alleine war, es zu ertragen, sich endlich die Tür öffnen traute, andere miteinzulassen, sein Leben mitzutragen?
Alles, sagte die Angst, alles kann dich erschüttern, vernichten. Nur mich alleine, antwortete er ihr liebevoll. Aber ich bin nicht mehr allein. Diese Fesseln habe ich nun abgelegt.