Ist ja zum Glück nix passiert.
Den Satz hatte sie schon öfter gehört seit jener Nacht. Natürlich, es hätte noch schlimmer kommen können. Er hätte auch nicht mehr von ihr ablassen können. Hätte eine Waffe mithaben können. Hätte schneller als sie sein können, als sie rannte. So hatte er sich mit dem MP3-Player zufriedengegeben, dem sie ihm in der ersten Schrecksekunde ins Gesicht geworfen hatte, und war geflüchtet. Hatte dann wohl doch Angst bekommen, dass jemand eingreifen würde. Oder hatte ihren Freund gesehen, der von der anderen Seite des Sees gerannt kam. Glück im Unglück gehabt, wie man so schön sagte. War ja nix passiert.
Wenigen hatte sie erzählt, dass sie seitdem nachts oft nicht mehr schlafen konnte. Dass sie Fremden nun grundsätzlich misstrauisch gegenüberstand, dass sie allem Fremden ein gewisses Misstrauen entgegenbrachte. Nachts traute sie sich kaum mehr alleine vor die Tür. Überall konnte er lauern, der Fremde, der doch nur wie ein harmloser Jogger wie viele andere ausgesehen hatte, bis er sie von hinten anfiel und sie zu Boden riss, der böse Wolf im Schafsfell. Nein, ihr Körper hatte keinen nennenswerten Schaden davongetragen – wohl aber ihr Vertrauen in die Welt. Die Errungenschaften der Freiheit, überallhin reisen zu können, überall hingehen zu können, wichen Zynismus, wo die Angst hinzukam, überall ohne Vorwarnung gepackt, ausgeraubt, verletzt, vergewaltigt oder sogar getötet zu werden. Es war ein stiller Terror, einer, der nur selten als Schlagzeile seinen Weg in die Zeitungen fand, weil er zu alltäglich war, um noch Bedauern oder Schock zu erwecken, aber umso effektiver. Nach den Anschlägen von Paris gab es weltweite Reaktionen, was für eine Sauerei es gewesen sei. Nach dem Anschlag auf ihr Grundvertrauen hatte die Welt nur Schulterklopfer für sie über gehabt.
Irgendwie bist du ja auch ein wenig selber schuld.
Sie hatte sich verwirrt gefühlt, vertrieben aus einer noch halbwegs heilen Welt, in der zwar vieles ungerecht, aber doch noch nicht alles aus den Fugen schien. Plötzlich war die Illusion einer gewaltfreien, liebevollen Welt mit Macht über ihren Kopf zusammengebrochen, und ihr Menschenbild gleich mit. Wenn Menschen zu so etwas fähig waren… wer war dann noch sicher? Und so hatte sie Schutz gesucht – bei Freunden, bei Verwandten, bei Fremden, aber die Antwort war stets ähnlich wie wenig hilfreich: selber schuld, wenn du um die Zeit noch da rausgehst, wo dir doch schon gesagt wurde, wie gefährlich es nachts dort ist. Na klar! Es war also kein grundsätzliches Problem, dass es da draußen Menschen gab, die andere, die ihnen nichts getan hatten, anfielen, ausraubten, vielleicht sogar vergewaltigten, sondern nur ein Problem, dass es Menschen gab, die zur falschen Zeit am falschen Ort waren. Irgendwann hatte sie es eingesehen, dass es hier niemanden gab, der ihr glauben wollte, dass sie sich vielleicht doch zu Recht als Opfer fühlte, und noch später beinahe akzeptiert, dass sie wohl auch keines gewesen war. Wer so dumm war, um die Zeit an jenem Ort zu gehen, war auch echt selbst schuld, wenn ihm was passierte.
Was kann man schon machen…
Und natürlich konnte man auch nichts machen. Der Mann war ins Dunkel der Nacht verschwunden, und übrig blieb nur eine verzweifelte junge Frau, die nicht verstehen wollte, warum das eben zum Leben „dazugehörte“, wie man ihr zu erklären suchte. Was würde es schon ändern, wenn man den Mann fand und vor Gericht stellte?, wurde sie gefragt. Nun, es würde der Welt zeigen, dass es gesellschaftlich unerwünscht ist, andere Menschen einfach so auszurauben und zu vergewaltigen, meinte sie. Würde vielleicht verhindern helfen, dass ich vom Ausnahmezustand zum Normalfall werde. Das ist Brasilien, meinten sie, nicht Europa. Genau deswegen, meinte sie. Genau aus diesem Grund.