Fügt man einem Lösungsmittel immer mehr von einem Stoff zu, so löst sich dieser zunächst, bis schließlich eine bestimmte Konzentration erreicht wird, die sich auch bei weiterer Substanzzugabe nicht mehr ändert. Die überschüssige Substanz bleibt als feste (beziehungsweise bei nicht vollständig mischbaren Flüssigkeiten als flüssige) Phase zurück. Es war nicht schwer gewesen, den Prüfungsstoff auswendig zu lernen, wohl aber, ihn zu begreifen. Genervt blätterte er in dem Chemie-Buch vor ihm und zählte die noch vor ihm liegenden Seiten mit einem gewissen Widerwillen. Klar hatte er sich ausgesucht, Chemie zu studieren. Aber er hatte irgendetwas zum Explodieren bringen, keine Wälzer lesen wollen. Noch 50 Seiten für heute, und er hatte es jetzt schon satt. Würde es noch einen Sinn haben, sich weiter durchzuquälen, wenn er sich jetzt schon gesättigt fühlte wie die Lösung, von der er gerade gelesen hatte, die sich auch bei weiterer Substanzzugabe nicht mehr ändert? Laut der Chemie offensichtlich nicht. Und als angehender Student musste er sich wohl in die Weisheiten seines Faches fügen.
Der Joint tat seine Wirkung, und er entspannte sich wieder. Den hatte er sich auch redlich verdient, nachdem er fast eine Stunde gelesen und gelernt hatte. Diese Professoren waren aber auch verrückt, jede Woche Leseaufträge von über 50 Seiten aufzugeben. Wenn man da die Zeit für die notwendigen Pausen einberechnete, und dafür wiederum die Zeit, sich einen Joint anzurichten sowie in unregelmäßigen Abständen auch noch die Zeit, sich das Rohmaterial zu beschaffen, summierte sich das ganz schön. Nur gut, dass die Dinger nicht süchtig machten wie etwa Zigaretten, die er aus diesem Grund nur sehr bewusst und unregelmäßig rauchte.
Einige Minuten später versuchte er sich wieder an seiner Lektüre, wobei er manche Absätze mehrmals lesen musste. Aber gestützt auf eine entspannte Geisteshaltung, die die verschiedenen chemischen Stoffe seiner Rauchwaren in ihm auszulösen vermochten, war auch das kein Grund zur Sorge. Keine Aufregung. Besser langsamer lesen und dafür gewissenhafter.
Am Ende des Studientages zog er Bilanz: 4 Seiten gelesen, 3 Joints geraucht, 14 interessante Gedanken gehabt, davon 11 überaus humorvolle, die er zwischendurch in seinem Notizbuch für humorvolle Einfälle notiert hatte, um daraus irgendwann vielleicht einmal ein ganzes Kabarett zu machen. Ein durchaus erfolgreicher Tag. Nach der Aufregung war es einem Mann besten Alters wohl vergönnt, sich einen Feier-Joint zu genehmigen, um den Sonnenuntergang zu betrachten. Als angenehmen Nebeneffekt fielen ihm zum Untergang der Sonne gleich noch zwei humorvolle Aussagen ein.
Erst jetzt fiel ihm auf, dass Anna ihn nicht wie sonst auf der kleinen Holzbank erwartete, auf der sie sonst immer gemeinsam den Sonnenuntergang zu betrachten pflegten, wenn sie beide ihren Tagesablauf hinter sich gebracht hatten. Irgendetwas hatte sie heute Morgen zu ihm gesagt gehabt, aber er konnte sich nicht mehr erinnern, an was. Die Aufregung, die ihre Worte in ihm ausgelöst hatten, war nicht über die Bewältungskraft eines Joints gegangen, also konnte es sich um keine große Tragik handeln. Verärgert musste er nun jedoch feststellen, dass sein Vorrat aufgrund der intensiven Lernsitzungen zur Neige gegangen war, und er sich auf Annas Großzügigkeit verlassen hatte. Aber da war ja immer noch die Sonne, die ihm gut tun würde. Sie würde schon noch kommen. Irgendwann kamen sie ja doch immer zurück.
Die Sonne sank quälend langsam, und mit jedem Millimeter, den sie am Horizont ihrem Niedergang entgegenwanderte, wünschte er sich quälender Anna herbei. Wusste sie denn nicht, dass er sie schon vermisste? Um sich die Zeit zu vertreiben, schlug er sein Buch humorvoller Kommentare auf und begann, zu lesen, fand sie jedoch überraschenderweise überhaupt nicht lustig. Sie will mich verlassen, stand da als zweiter Kommentar von heute. Ihn, den fleißigen Studenten der Chemie, der sein Äußerstes gab, ihnen beiden eines Tages ein gemeinsames Leben zu ermöglichen? Ein Stück weit war es dann schon wieder lustig, wenn auch eher lächerlich. Ich habe es satt mit dir, hatte sie gesagt und er notiert, weil er es lustig fand und es zu seinem Chemiebuch passte. Was hatte sie denn die letzten Monate zum gemeinsamen Haushalt beigetragen? Ein bisschen geputzt, ein bisschen gekocht, ein bisschen nebenbei gearbeitet. Und nun wollte sie ihn verlassen? Lächerlich.
Als die Sonne ganz untergegangen war, ging er gemütlich zurück ins Haus. Am Küchentisch lag ein ganzer Stapel von Briefen, den wohl Anna hierher geschmissen hatte. Wer konnte schon die Zeit finden, täglich seinen Briefkasten zu lehren, wenn man über gesättigte Lösungen nachzudenken hatte? Gelangweilt schmiss er sie einen nach dem anderen in den Papiermüll und legte sich ins Bett. Blöde Schlampe. War wohl mit diesen kapitalistischen Asozialen abgehauen, mit ihren dicken Autos und ihren Säcken voll Geld. Das würde ihm nicht passieren. Dafür war er zu eng verbunden mit der Idee der gewaltlosen Revolution, die er tagtäglich erfolgreich praktizierte, ob es ihr passte oder nicht.
Als Anna Wochen später noch einmal vorbeikam, um einige ihrer Sachen zu holen, die sie noch in seiner Wohnung vergessen hatte, fand sie ihn im Garten, immer noch über der Buchseite über gesättigte Lösungen vertieft, neben ihm die Überreste zahlreicher Joints. Als sie ihn besorgt anblickte, sah er auf und lächelte sie an. Es dauerte eine halbe Minute, bis er zum Sprechen ansetzte, und er zog die Worte so lang, als koste ihn ein jedes unendlich viel Kraft. Sein Mund lächelte, doch seine Augen blieben vernebelt.
„Ich habe das Nirwana gesehen. Die Lösung für die Probleme der Welt.“
„Und ich die Welt“, antwortete sie. „Dort werde ich jetzt wieder zurückkehren. Du bleibst hier?“, fragte sie, mehr eine rhetorische Frage denn eine, die eine Antwort erwartete.
„Natürlich!“, sagte er, „Ich habe zu tun“, und deutete auf sein Buch.
„Du bist seit Monaten nicht mehr inskribiert“, machte sie einen letzten Versuch, ihn aus seiner Lethargie zu reißen, „hast du deine Briefe nicht gelesen?“
„Das Studium ist nur die formale Form der kapitalistischen Unterdrückung. Die humanistische Bildung steht über ihr“, antwortete er.
Und dann erkannte sie, dass er einen geistigen Sättigungsgrad erreicht hatte, in dem er nicht einen einzigen neuen Gedanken mehr aufnehmen konnte. Der Nebel, zu sehr zum Dauerzustand in seinen Lungen geworden, hatte sich längst in seinem Kopf eingenistet. Nicht mehr als willkommener Gast, der Zerstreuung brachte, sondern als Parasit, der die Zerstreuung in sein Extrem trieb und einen jeden Gedanken atomisierte, vereinzelte, bis kein gemeinsamer Raum der Verbindung mehr überblieb. Sein Gehirn war mit den Jahren schleichend, ohne dass er es selbst bemerkte, zu dem Klumpen sich niemals berührender Einzeller geworden, dem sie sich nun gegenüber fand.
„Nirwana!“, rief er, und kicherte unkontrolliert. „Das ist die Lösung!“
Sie hatte es so satt. Und ging diesmal für immer.
Es dauerte eine knappe Minute, bis der Gedanke zu ihm durchdrang, dass er nun wieder alleine war und er aufhörte, seine unzusammenhängenden Sätze zu sprechen.