Zu Tausenden bevölkerten sie nun die Stadt, zu Tausenden waren sie nun in Bewegung – waren sie eine Bewegung, mit fast politisch greifbarer Macht, hätten sie ein Programm oder auch nur ein weiterführendes Ziel gehabt. Die lebenden Toten waren wieder in der Stadt.
Es wäre wohl eine politische Macht geworden, wäre es tatsächlich eine Bewegung gewesen. Aber ein aufmerksamer Beobachter konnte rasch erkennen, dass sie verschiedene Ziele an-, verschiedenen Zielen zustrebten. Der Ort mochte sich unterscheiden, doch der Name variierte nur unwesentlich: irgendeine Kombination aus „Halloween“ und „Party“ war es am Ende ja doch meistens. Die importierte Möglichkeit, einen Tag vor dem Gedenken der Toten noch die Untoten zu feiern, von vielen vor Jahren noch belächelt, hatte sich rasch etabliert. So rasch und vollkommen, dass aus dem Angebot zunehmend ein gewisser Zwang geworden war. „Und, was machst du an Halloween?“, ehemals mit einem Schmunzeln über das amerikanische Mitläufertum versetzt, war zum wirksamen Mittel geworden, die Uneingeweihten bloßzustellen.
Wie jeder Eingeweihte wusste – und die Masse stellte auf ihre Art schon sicher, dass die Minderheit der Uneingeweihten sich stetig verkleinerte – gab es verschiedene Abstufungen des Prestiges: der Königsweg war es, zu einer privaten Feier eingeladen zu werden – oder gar Gastgeber einer zu sein. Wer nicht zu den Glücklichen gehörte, musste mit den öffentlichen Varianten Vorlieb nehmen. Glücklicherweise gab es auch hier die Möglichkeit, mittels unterschiedlicher Eintrittspreise zu im Grunde gleichen Vergnügungen seinen Rang auszudrücken.
Nun war auch sie zu einer jener privaten Feiern eingeladen worden. Es war Bedingung gewesen, sich zu verkleiden, und die ihre war erstaunlich gut geworden. Dort angekommen, fügte sie sich den üblichen Ritualen solcher Feiern: dem Alkohol, der in Strömen floss, dem immer gleichen Rhythmus der Musik, der ihrem Körper kaum mehr als dem ewig gleichen Bewegungsradius von Vor und Zurück, Rauf und Runter erlaubte. Die Mutigen wackelten noch ein wenig mit dem Hintern, während die Männer mit dem Fortschreiten der Zeit immer drängender in ihren Avancen wurden. Aber dem Geist die körperliche Grundlage und dem Körper damit seiner Kontrolle zu entziehen war ja von jeher das erklärte Endziel einer jeden guten Feier im Geiste der Zeit gewesen. Warum nicht? Es gab ja Kondome, um Schlimmeres zu verhindern.
Wer waren diese Menschen, und fühlten sie sich wohl hinter ihren fantasievollen Masken und Rollen?, dachte sie in jenem umnebelten Moment, als das ewige monotone Wackeln der immer gleichen Körperteile einen leichten Schwindel in ihr ausgelöst hatte und sie sich erschöpft an die Wand lehnte. Welche Art von Ekstase war dies, die sie nicht einander näher brachte, sondern nur ihren Rollen? Alle standen sie irgendwie herum, mit diesem schwerlich unterdrücken Ausdruck von Langeweile, bewegten ihre Körper, wie es die Mode diktierte, plauderten vor sich hin und in der Enge des gemeinsamen Raumes doch aneinander vorbei.
Und an was würden sie sich erinnern können, wenn die lebenden Toten am nächsten Morgen zu den nahtoten Lebenden geworden waren? Sie waren dabei gewesen. Wenn jemand fragen würde, was man an Halloween unternommen hatte, würden sie sagen können, sie waren bei dieser oder jener privaten Feier gewesen, wohl wissend um die Macht der Scham über die eigene Unwissenheit bezüglich der durchzechten Stunden, die sie alle verband und die dafür sorgen würde, dass niemand ausplauderte, was unaussprechlich schien. Schließlich war es ja eine private Feier gewesen, bei der man unter sich blieb und auch bleiben wollte. Bei der man den Austausch von Körperflüssigkeiten jenen von Gedanken oder gar Gefühlen vorzog, wie es sich für junge Menschen gehörte, die mit der Zeit zu gehen wussten.
Tags darauf war der Spuk wieder vorbei, noch ein paar Tage später auch das letzte unglückselige Produkt jener Nächte mit Hilfe der entsprechenden Pillen für den gewissen Notfall aus der Welt geschafft. Einmal im Jahr verrückt sein, das konnte man sich ja mal leisten. Was sollte schon passieren?
Nur dunkel erinnerte sie sich an die mit Kunstblut überströmte Fratze des Zombies, mit dem sie in jener Nacht geschlafen hatte. Erst einige Wochen später, als sie mit Schrecken feststellte, dass ihre Periode ausgesetzt hatte, fiel ihr ein, dass ihr ihre Freundinnen lachend erzählt hatten, sie hätte pausenlos gekotzt. Die Pille wirkt nicht zuverlässig bei Erbrechen war auf der Packung gestanden. Und obwohl ihr Kopf noch Ausflüchte suchte, wusste ihr Körper doch, dass es stimmte. Scheiße, ich bin schwanger! Wie war sein Name noch gewesen? Doch niemand konnte sich an einen blutverschmierten Zombie erinnern. Ob sie ihn nicht mit dem Skelett verwechselte? Und ihr wurde bewusst, dass sie kaum mehr etwas wusste von jener Nacht. War es zumindest schön gewesen mit ihm? Hatte es sich zumindest ausgezahlt? Das dunkle Loch in ihrer Erinnerung wurde größer, weitete sich, schien sie verschlingen zu wollen. Aber ich wollte doch nur auch einmal Spaß haben…