#72 Gefühlsmonster

(Letztes Update von Niklas Baumgärtler am 26.5.2021)

Wie jeden Tag liefen die kleinen Angstmonster mit ihren Freunden, den Schäm-Dich-Monstern und den Zweifel-Monstern, an ihren liebsten Ort, um zu spielen. In der Nähe der großen, leuchtenden Kugel, von der alles entsprang, im Innersten, dort fühlten sie sich wohl.

Manchmal löste sich ein Gedanke oder ein Gefühl von der leuchtenden Kugel los, um sanft in Richtung Gehirn, Herz oder sogar Zunge zu schweben. Gespannt beobachteten die Gefühlsmonster dann das ebenso leuchtende Kügelchen, und schlossen Wetten ab, in welche Richtung es sich wohl bewegen würde. Sie hatten kleine Wegweiser aufgestellt, um den Überblick nicht zu verlieren. Und weil manche der Gefühlsmonster eben Spaßvögel waren, vertauschten sie diese Wegweiser manchmal, um zu sehen, was passieren würde. Manchmal landete ein Gedanke, der noch gar nicht fertig herangewachsen war, dann bereits auf der Zunge. Oder ein Gefühl, dass für das Herz bestimmt gewesen war, landete im Gehirn, wo es gar nicht hingehörte. Aber die Gefühlsmonster störte das nicht weiter, solange sie ihren Spielplatz für sich hatten. Sie waren wie Kinder, die weder an ein Gestern noch an ein Morgen dachten. Alles, was ihnen zählte, war, Spaß zu haben. Und sie hatten großen Spaß.

Irgendwann – die große Uhr neben der Lichtkugel musste wohl so etwa auf 2-3 Jahre gezeigt haben, hatten sie entdeckt, dass die Gedanken und Gefühle vorzüglich schmeckten, und so stritten sie fortan um diese Leckerbissen. Manche Kügelchen erreichten damit nie ihr Ziel, andere pupsten sie wieder aus, nur um verblüfft festzustellen, dass die so verzehrten und verzerrten Lichtkügelchen nun gar nicht mehr so leuchteten und lustig umhersprangen. Wenn diese dann ihr Ziel erreichten, gab es oft kleinere und manchmal sogar größere Beben im Innersten, in dem sie lebten. Aber sie schmeckten zu lecker, um aufzuhören.

Eines Morgens jedoch wurden sie von einem unglaublichen Getöse geweckt, und stellten fest, dass von der großen Kugel nun ein dicker Strahl zum Herz und von dort aus noch weiter in die Ferne führte. Das älteste der Gefühlsmonster wurde gerufen, um zu entscheiden, was denn nun zu tun sei. Er befahl, den Strahl eine Weile in Ruhe zu lassen. Nach einigen Monaten stellten sie fest, dass der Strahl etwas dicker geworden war. Der Älteste ging vorsichtig darauf zu, berührte ihn, kostete einen Happen. Eine außerordentliche Spezialität! Sogleich wurden alle Angst-Monster, alle Schäm-Dich-Monster und die Zweifel-Monster gerufen, um ein Festmahl zu feiern.

Nach dem Essen (von dem Strahl war nicht mehr viel übrig) wurde ausgiebig gepupst, wie es sich für echte Gefühls-Monster gehörte, und bewundernd beobachteten sie, wie ihr gemeinsames Produkt in Richtung Herzen entschwebte, um mit einem gewaltigen Beben auch die letzten Überreste des einst hellen Strahls verdampfen zu lassen. „Nun, das wäre erledigt“, meinte der Älteste zufrieden, „aber falls wir wieder einmal so etwas finden, wollen wir es ‚Liebe‘ nennen? Wir wissen ja jetzt, was zu tun ist. Problem gelöst.“ Im Laufe der Jahre wiederholte sich das Phänomen noch einige Male, was die Gefühlsmonster jedes Mal aufs Höchste erfreute. Denn die Liebe schmeckte ihnen vorzüglich.

Eines Tages jedoch, als sie sich gerade wieder einmal bereit gemacht hatten, eine besonders delikat aussehnde Liebe zu verspeisen, erschien plötzlich eine ganze Meute fremder Gefühlsmonster im Innersten. Gute Gastgeber, die sie waren, boten sie ihnen an, mitzunaschen, doch diese lehnten ab. Sie seien hier, um Liebe zu finden, nicht um sie aufzuessen. Es sei ja ok, hin und wieder ein wenig davon zu knabbern, sie munde ja auch sehr. Aber wenn man nicht aufpasse, dann fresse man sie eben doch allzu rasch auf, und es dauere immer länger, bis sie auf natürlichem Wege nachwachse. Deswegen seien sie gekommen, um diese Liebe zu retten, bevor sie noch ganz ausstürbe. „Man muss heute schon auch über den Tellerrand des eigenen Appetits denken“, meinte ein weißhaariges fremdes Angstmonster. Es sei ein sehr fragiles Gleichgewicht, das zu erhalten oder gar zu fördern ihre Aufgabe sei.

Die Gefühlsmonster waren irritiert. Wie sollte das funktionieren? Doch die Besucher hatten einen Plan: „Wir arbeiten jetzt alle für den Umweltschutz. Pflegt eure Liebe. Wenn ihr liebe-volle Gedanken und Gefühle nascht, passt auf, dass sie sich danach nicht statt Richtung Herz in Richtung Zunge bewegen, wenn sie doch noch zu klein sind, um ausgesprochen zu werden. Leitet sie. Werdet ihre Lotsen. Nährt eure Liebe, pflegt sie. Wenn ihr das tut, und wir ebenso, wird unsere Liebe stark sein und bleiben.“
Die Gefühlsmonster waren erstaunt. „Unsere Liebe?“, fragten sie.
„Ja!“, meinten die Fremden, „Wir waren auch erst überrascht. Bis wir begriffen haben, dass die Liebe das einzige ist, was unser Innerstes mit anderen Innersten, wie dem euren, verbinden kann. Nun können wir endlich mal die Welt erkunden! Könnt ihr euch vorstellen, wie viele Innerste es da draußen noch geben mag?“
„Das ist ja phantastisch!“, meinten die Gefühlsmonster, und malten sich eine goldene Zukunft aus.
„Lasst uns einen Pakt schließen!“, rief der fremde Älteste feierlich, „Wollen wir die Liebe, die uns verbindet, hegen und pflegen?“
„Ja!“, brüllten alle Gefühlsmonster voller Begeisterung, und ihr gemeinsamer Pups entschwand rasch Richtung Zunge. Da war Angst der Angstmonster dabei in diesem Ja, Scham der Schäm-Dich-Monster, und Zweifel der Zweifel-Monster. Aber auch die Festigkeit und Tragfähigkeit einer Liebe, die gerade eben unter Naturschutz gestellt worden war.

„Ich liebe dich“, sagte sie, bereit, die Angst, die Scham und die Zweifel, die mitschwangen, zunehmend als unverrückbare, unveränderliche Tatsachen anzunehmen.

„Auch ich liebe dich“, sagte er, weil er fühlte, dass es die Wahrheit war, und es sinnlos war, es zu leugnen. Eine Wahrheit, die ihn ängstigte, für die er sich manchmal schämte und an der er in schwachen Momenten zweifelte, verzweifelte. Aber vielleicht würden gerade jene Gefühlsmonster, die ihm so oft nachts den Schlaf raubten, ihm helfen können, seine Liebe zu ihr lebendig und stark zu halten.

Gute Arbeit, Jungs, dachte er, die Stärke der Verbindung zu ihr fühlend, und dann, zu ihrem Innersten hin: Ich liebe dich. Bis tief in sein Herz konnte er spüren, wie auch ihr Innerstes vor Glück erbebte. Richtig gute Arbeit, Jungs.
Weiter so.

Portrait Niklas Baumgärtler

Niklas Baumgärtler

Niklas Baumgärtler interessiert sich für die Kunst der Begeisterung und macht gerne Wechsel- und Hebelwirkungen in Sozialen Systemen sicht- und erlebbar. Mehr über Niklas Baumgärtler...

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