Sie sind in uns allen, hatte man ihr gesagt. Ständig. Schon in Kindern ließen sie sich feststellen, obwohl die körpereigenen Abwehrsysteme meistens kurzen Prozess mit ihnen machten, wo immer sie auftauchten. Krebszellen. Entartungen des eigenen Körpers. Wuchernde Übertreibungen der eigenen Wichtigkeit. Tödliche Fremdkörper, dem Eigenen entwachsend, die Fremde verbreitend.
Sie hatte begonnen, das Andere in ihr zu bekämpfen, den Teil von ihr, der ihr stets so vertraut erschienen war, und der sich plötzlich, bei genauerer Betrachtung, als ein ihr Fremdes entpuppt hatte. Sie hatte lernen wollen, anderen zu helfen. Aus der Tiefe ihres gebenden Inneren heraus. Wie groß musste der Schock gewesen sein, wie tief der Schmerz, als sie erkannte, dass sie in Wahrheit anderen helfen wollte, um nicht spüren zu müssen, dass sie selbst es war, die Hilfe brauchte. Es herrschte ein kalter Krieg in ihr. Nicht, weil beide Seiten aufrüsteten, um den anderen zu übertrumpfen. Nein, die Schlachten waren schon geschlagen worden, lagen bereits so lange zurück, dass sie keine bewusste Erinnerung mehr daran hatte. Es war die Kälte, die Hoffnungslosigkeit des vollends Besiegten, die aus der Tiefe der Erinnerung in ihr Bewusstsein drang. Angst überkam sie, eine tiefe, alles überschwemmende Angst, die Antwort auf die eine Frage herauszufinden, die ihr nun die Luft zum Atmen nahm. Worum hatte sie damals gekämpft? Was hatte sie damals verloren?
Sie hatte lernen wollen, zu helfen. Realisierend, dass sie erst lernen würde müssen, sich selbst zu helfen, begann sie nun, genauer hinzusehen. Die Wahrheit. Es war Zeit, Klarheit zu erlangen, wiederzufinden, was sie nun deutlich als ein Loch, eine klaffende Wunde wahrnahm, die all die Jahre nur notdürftig geflickt worden war. Einige Tage zögerte sie. Doch zunehmend realisierend, dass ihr Körper, ihre Seele nur noch Fassade, nur noch Außen sein würde, ja immer nur gewesen war, fand sie in sich nun den unbändigen Mut, die Macht des Lebensmüden. Sie war es müde, nur zu leben, ohne einen Grund, ohne die Erfahrung der Tiefe, stets nur die Leere in ihr notgedrungen kaschierend. Es war Zeit, die Leere zu füllen. Erfüllung zu finden.
Mit zitternden Fingern öffnete sie die alte Wunde. All der Schmutz, der Dreck, mit dem sie und andere versucht hatten, die quälende Leere in ihr zu stopfen, um sie nur nicht mehr fühlen zu müssen – nun drang er hinaus. Suchte sich eiternd seinen Weg, durchdrang ihren Körper, setzte sich fest an all den Stellen, denen die stärkende Struktur eines inneren Ichs, eines inneren Grundes fehlten. Krebs. Die Diagnose überraschte sie nicht, spürte sie doch nun ganz deutlich das Fremde in ihr, das sie als Kind als ihr Eigenes akzeptieren hatte müssen, um zu überleben. Im Endstadium, hatte der Arzt gemeint. Es war überall. Doch erstmals in ihrem Leben war es sichtbar geworden, konnte sie es sehen. Hatte es einen Namen. Konnte sie es hassen. Bekämpfen. Sie hatte eine Schlacht verloren, damals. Aber es war noch nicht vorbei.
Der Krieg dauerte nun schon über zwei Jahre. Sie hatte sich bestrahlen lassen, um das Andere in ihr zu vernichten, hatte einen Rückzug des Fremden in ihr erzwungen, nur um festzustellen, dass es wieder erstarkt war. Hatte einen Lungenflügel geopfert, ihr Augenlicht, um zu siegen, um zu erringen, was ihr von Geburt an zugestanden war, was ihr in einem kurzen Krieg genommen worden war, an den sie sich kaum mehr erinnern konnte. Was hatte sie damals verloren? Die Frage kehrte mit Macht in ihr Bewusstsein zurück, und diesmal konnte sie es nicht verhindern, dass sich auch die Antwort ihren Weg bahnte. Ein Leben. Ihr Leben. Etwas wie ein Leben hatten sie ihr gelassen, aber ein anderes, nicht das ihre, das sich zu leben gelohnt hätte.
Vierzig Jahre. Vier Jahrzehnte lang hatte sie das Leben anderer gelebt, hatte das Fremde in sich aufgenommen, es genährt, für das Eigene gehalten. Was war das überhaupt, das „Eigene“? Würden ihre von der Strahlentherapie geschwächten Augen es noch unterscheiden können? Würde ihr von all den Medikamenten geschwächter Körper je wieder Unbeschwertheit empfinden können? Und wer waren diese Menschen, die meinten, sie seien ihre Kinder, wer war dieser Mann, der meinte, sich um sie kümmern zu müssen, wenn sie in ihrer Umnachtung um Hilfe schrie? Wer waren all diese Menschen? Wer war sie? Was blieb über von ihr, wenn all das Fremde wegoperiert, zerstrahlt, ausgetauscht sein würde durch das, was wieder andere Menschen für richtig hielten?
Und dann begann sie zu erahnen, dass es wenig Sinn machte, weiter für etwas zu kämpfen, was sie kaum mehr als das Ihre unterscheiden konnte, weil sie lange bereits verlernt hatte, diese Unterscheidung zu treffen. In der Nacht ihrer Einsamkeit, so nah und doch so fern von all den Menschen, die sie – oder vielmehr den Menschen, für den sie sich einst selbst gehalten hatte – liebten, und die sie nun nicht mehr wahrnehmen konnte, erkannte sie plötzlich, dass sie hier, in diesem Dämmerzustand zwischen Leben und Tod, eine letzte Freiheit erwartete. Sie konnte gehen. Jetzt und hier. Und niemand in dieser Welt würde sie dafür tadeln, kritisieren oder strafen können. Was auch immer andere von ihr und ihrer Entscheidung denken würden – all ihrer Sinne beraubt, würde sie nichts davon mitbekommen. Zum ersten Mal in ihrem bewussten Leben fühlte sie sich völlig frei.
Und traf ihre Entscheidung.
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