„Wenn ich schwanger bin, höre ich sofort auf damit“, hatte sie immer gesagt, wenn sie auf die Gefahren für das heranwachsende Kind angesprochen worden war, und den Fragesteller angelächelt. Natürlich wusste sie, dass es schlecht für das Kind sei, und natürlich wäre sie verantwortungsvoll genug, dem neuen Leben in ihr die beste Entwicklungsumgebung zu bereiten, die ihr möglich war.
Aber bis dahin war es ja kein Verbrechen, sich hin und wieder eine Auszeit zu gönnen.
Es war so einfach – wenn man keine Lust mehr hatte, mit dem weiterzumachen, was man gerne tat, machte man einfach eine Rauchpause. „Die Sucht ruft!“, würde man den anderen mit einem verschmitzten Lächeln erklären, und einfach gehen. „Ich rauch mal eine“ dem Gesprächspartner erklären, wenn man keine Lust mehr auf dessen langweilige Monologe hatte. Einatmen, sich spüren, ausatmen, alles rauslassen. So einfach und simpel.
Hatte man gerade keine Kippen bei der Hand, war es beinahe noch besser. Überall liefen ja Menschen umher, die man nach Zigaretten fragen konnte, oder nach Feuer, und niemand guckte einen schief an, wenn man einen völlig Fremden dafür ansprach. Für einen Moment wurde der Abstand zwischen Unbekannten, das Unbekannte selbst, überbrückt durch die gemeinsame Realität des Rauches. Dann ging man wieder seiner Wege, wenn sich der Andere als Langweiler herausstellte, oder quasselte noch eine Weile weiter mit dem neuen Bekannten. So simpel.
Gestern jedoch hatte es nicht so recht geklappt. Ihr Tabak war ausgegangen, und als sie einige Leute angesprochen hatte, ob sie ihr nicht eine Kippe geben könnten, hatten diese sie nur abschätzend angesehen und gemeint, sie rauchten nicht, und würden es auch nicht unterstützen wollen. Nach dem dritten Mal war es ihr zu blöd geworden, schief angesehen zu werden, und gab es auf.
Aber ohne eine Kippe Rauchpause zu machen war auch seltsam, da würden die Kollegen schon ein wenig schief gucken und sie für faul halten. Also war sie den ganzen Tag im Büro geblieben und hatte weitergearbeitet. Nach einer Weile hatte sie sich ziemlich unwohl gefühlt, aber da war wohl nichts zu machen.
Heute war ihr dann klar geworden, warum niemand gestern so sozial gewesen war, ihr Tabak zu geben: im Büro war allgemeines Rauchverbot vorgeschrieben worden, und ihre Kollegen wollten sich wohl daran halten.
Überrascht stellte sie jedoch nun fest, dass ein junger Mitarbeiter trotzdem an dem Ort stand, wo sie sich sonst immer zum Rauchen getroffen hatten. Rauchte er etwa heimlich? Sie beschloss, runterzugehen und ihn anzusprechen. Vielleicht hatte er ja auch für sie genug dabei.
Unten angekommen musste sie jedoch feststellen, dass der Kollege die Frechheit besessen hatte, einfach so eine Pause zu machen. „Weil ich eine Pause gebraucht habe“, meinte er nur achselzuckend, als wäre es das normalste der Welt, einfach Pause zu machen, wenn man eine brauchte. Das war doch irgendwie kindisch.
Er musste ihren Blick bemerkt haben. Oder vielleicht hatte sie ihren letzten Gedanken etwa laut ausgesprochen? „Ist es nicht viel kindischer, eine Zigarette als Vorwand zu benutzen, um eine Pause machen zu dürfen, anstatt zu seinen Bedürfnissen zu stehen?“, meinte er, leicht verächtlich, „Ist es nicht erwachsener, sich um sein eigenes inneres Kind zu kümmern?“
Und dann stellte sie sich die Frage, warum sie sich einredete, dass sie mit dem Rauchen aufhören würde, um ein in ihr heranwachsendes Kind zu schützen, aber nicht bereit war, dem schon seit ihrer Geburt in ihr wohnenden inneren Kind dieselbe Fürsorge zu gewähren. Warum sie nicht bereit war, sich selbst genug zu lieben, um liebevoll für sich und ihren Körper zu sorgen. Und warum sie sich ohne Zigarette schuldig fühlte, hier und jetzt mit diesem Mann ein Gespräch zu führen, obwohl sie doch seit drei Stunden ununterbrochen gearbeitet hatte und ihr einige Minuten Pause auch rechtlich durchaus zugestanden wurden.
Warum brauche ich eine Entschuldigung dafür?, dachte sie. Und dann, erschrocken über die Klarheit ihrer Gedanken: Wer erlaubt mir, zu leben, wie ich es für richtig halte? Und warum kann ich mir diese Erlaubnis nicht einfach selbst geben?
Sie atmete tief ein, spürte die frische Luft in ihren Lungen, und atmete aus. So einfach. So simpel. So frei.