Es gibt Menschen, die wollen ganz viel im Leben erreichen. Wollen Geld, Autos, Wohnungen, Häuser, andere Menschen. Setzen sich ganz viele Ziele. Zum Beispiel mehr Gehalt. Ein Haus im Grünen. Eine schöne neue Frau. Dass es den Tieren besser geht. Eine bessere Welt. Oder das Ende der Welt, und dann wollen sie daraus irgendwie eine neue und bessere bauen. Und dann gibt es noch die Menschen, die –
Hmm. Vielleicht gibt es auch nur die eine Sorte an Menschen, oder besser gesagt einfach nur Menschen. Vielleicht sind wir ja einfach so. Vielleicht sind wir so geboren, oder werden alle irgendwann so. Dass wir im Leben Ergebnisse erreichen wollen. Weil es uns in den Genen liegt oder so. Zumindest sagt Frau Bauernfeind das immer, und die ist schließlich meine Lehrerin. Die ist auch schon richtig alt, und hat graue Haare. Eine richtige Oma, könnte man sagen, und die sind ja bekanntlich meistens recht schlau, weil sie schon viel erlebt haben. Deswegen nennen wir sie auch meistens Oma Bauernfeind, aber das stört sie gar nicht. Die ist wirklich ganz nett eigentlich.
Oh, vielleicht sollte ich mich erst einmal vorstellen. Mein Name ist Mimi. Also, eigentlich heiße ich Maria, aber alle nennen mich Mimi, das ist leichter. Ich gehe in die dritte Klasse bei Frau Bauernfeind, und Frau Bauernfeind ist eigentlich sehr nett. Aber es gibt da eine Sache, über die kann ich mit ihr irgendwie nicht reden. Da wird sie dann immer ganz aufgeregt und hektisch, und das macht mir Angst. Sie hat ja schon graue Haare und ist sicherlich schon sehr alt, ich möchte nicht, dass sie vor lauter Aufregung noch umkippt. Dann wäre ich schuld daran, dass unsere liebe Oma Bauernfeind tot ist und ein Geist wird, und wir bekommen vielleicht eine andere Oma, die nicht so lieb ist, als Lehrerin. Oder Oma Bauernfeind ist dann böse auf mich und kommt nachts als Geist zu mir, um in meinem Zimmer zu spuken. Das möchte ich nicht. Also lasse ich sie damit in Ruhe.
Es ist gut, dass wir bei Oma Bauernfeind lesen und schreiben lernen, weil ich jetzt endlich mit jemandem sprechen kann, der nicht Angst bekommt vor dem, was ich fragen will. Danke, liebes Tagebuch, dass du nicht davonlaufen willst. Ich finde es schade, dass du mir auf meine Fragen nicht antworten können wirst, weil du ja nur aus Papier bist und nicht denken kannst. Aber vielleicht besucht dich ja eines Tages ein Geist, der liest, was ich geschrieben habe, und der macht sich dann Gedanken und antwortet mir. Vielleicht die Mama von Oma Bauernfeind, die ist ja schon gestorben, und die ist sicher noch klüger als Oma Bauernfeind, weil sie ja sogar noch älter ist als sie und sicher noch grauere Haare hat.
Lieber Geist von Uroma Bauernfeind, falls du mein Tagebuch lesen kommst, bitte falle nicht tot um! Aber eigentlich bist du ja ein Geist, der kann nicht nochmal sterben, oder? Jedenfalls, wenn du mein Tagebuch lesen kannst, ohne ganz aufgeregt zu werden: vielleicht kannst du mir ja eine Antwort geben, weil du sicher sehr alt und deswegen auch sehr klug bist. Warum überlegen sich die Menschen immer, was sie wollen, anstatt etwas zu tun? Warum will meine Mama immer abnehmen, aber isst dann so viel Kuchen? Warum will mein Papa immer die Arbeit wechseln, aber geht dann jeden Tag wieder zur Arbeit? Kann er nicht einfach nicht mehr zur Arbeit gehen? Warum will Oma Bauernfeind, dass wir ganz viel lernen, und wird dann nervös, wenn ich ihr solche Fragen stelle?
Liebes Tagebuch, und lieber Geist, der es lesen wird, ich verstehe nicht, warum die Erwachsenen so kompliziert sein müssen. Wenn ich nicht zur Arbeit gehen will, dann kann ich doch nicht trotzdem zur Arbeit gehen! Wenn ich will, dass mein Körper dünner wird, dann kann ich ihn doch nicht mit Kuchen vollstopfen! Da bringt es ja nichts, etwas zu wollen, wenn man dann etwas Anderes macht. Ich finde, die Erwachsenen sind da ziemlich kompliziert. Wenn ich etwas will, muss ich meinem Körper sagen, dass er etwas tun soll. Wenn ich will, dass ich zum Kiosk komme, muss ich meinem Körper sagen, er soll dorthin laufen. Wenn ich mich nur dorthin wünsche, ohne dass mein Körper das auch macht, komme ich nicht dorthin. Ich kann wollen, was ich will, ohne meinen Körper werde ich nichts erreichen. Deswegen ist es auch wichtig, darauf zu achten, dass der funktioniert und gesund bleibt. Ich bin ja nur neun Jahre alt, aber das verstehe sogar ich.
Es ist seltsam, wie wenig die Erwachsenen ihren Körper benutzen, obwohl sie doch so viel erreichen wollen. Wir Kinder laufen ja ständig herum, klettern und balancieren über alles Mögliche, aber die meisten Erwachsenen sitzen den ganzen Tag irgendwo und denken darüber nach, was sie noch erreichen wollen, anstatt mal in Bewegung zu kommen. Kein Wunder, dass sie ständig unglücklich sind und nichts erreichen! Auch Oma Bauernfeind, die oft erzählt, wie gerne sie doch damals Herrn Mahler nähergekommen wäre, und es bis heute bereut, sich nicht getraut zu haben. Herr Mahler, das ist unser Direktor, muss man wissen. Aber anstatt sich einfach in seine Nähe zu setzen, denkt sie darüber nach, wie schön es wäre, es zu tun! Als ich Frau Bauernfeind darauf angesprochen habe, hat sie mich gefragt, ob ich denn meine, dass sie sich auch aufführen sollte wie wir Kinder. Sie hat mir dann erklärt, dass Erwachsene das nicht machen könnten, denn sonst würde ja überall völliges Chaos herrschen. Und bei der Vorstellung alleine bekommt sie schon Albträume. Ich habe dann aufgehört, weiterzufragen, weil ich Oma Bauernfeind ja gern habe und will, dass es ihr gut geht. Aber findest du die Erwachsenen nicht auch ein wenig unsinnig, liebes Tagebuch?
Deine Mimi
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