Ja, sehr angenehm, Sie wiederzutreffen! Damals haben wir uns ja wohl ein wenig aus den Augen verloren. Aber nette Leute trifft man ja meistens zwei Mal, wie der Volksmund sagt – und sehen Sie, er hatte recht!
Sie fühlen sich unsicher, ob Sie mich wirklich kennen? Vielleicht kennen Sie mich auch unter meinem Zweitnamen? Ja, ich weiß, es ist für viele Menschen schwer, sich meine beiden Namen zu merken. Aber früher oder später lernen wir uns ja doch meist besser kennen, und dann werden sie sich wieder erinnern, da bin ich mir sicher. Die meisten rufen mich nur Liebe, oder auch nur Hass. Manchmal kann ich alleine daraus einschätzen, welche Art von Menschen ich wohl gerade vor mir habe. Ist das nicht erstaunlich?
Es ist fast ein wenig komisch, dass so viele Menschen immer wieder überrascht sind, mich anzutreffen, wo ich doch immer unter Leuten bin. Natürlich begegnen wir uns früher oder später wieder, die Welt ist ja bekanntlich recht klein. Ein wenig kränkt es mich dann schon manchmal, wenn Menschen mich behandeln, als würden sie mich nicht wiedererkennen, oder als wäre ich Luft für sie. Als würden sie etwas gegen mich haben… Ganz seltsam ist es, wenn Menschen mich wiedersehen und vor mir flüchten. Was habe ich ihnen wohl angetan? Aber ich kann erkennen, dass Sie möglicherweise anders sind.
Was ich so mache? Ich wandere zwischen ihnen umher, diesen Menschen, deren Seelen oft so verdorrt erscheinen, als würden sie gleich zu Staub zerfallen, und gebe mich ihnen hin, auf dass sie sich erfrischt fühlen und wachsen können. Es ist interessant, welch verschiedene Formen ihre Seelen angenommen haben, welche schönen Strukturen die Narben und Falten ihres Lebens ihnen verliehen hat. Ich kann ihr Leben fühlen, während ich Tropfen für Tropfen durch ihre Formen fließe, spüre ihren Durst nach meinem lebendigen Wasser, höre ihr Rufen nach Erlösung von der Trockenheit. Und so finde ich meine Erfüllung in der ihren.
Wie schön es ist, wenn ich eingeladen werde in eine jener Seelen! Doch wie viel schöner es erst ist, einer anderen Seele weitergeschenkt zu werden! Welch wunderbares Gefühl es doch ist, zwischen Seelen fließen zu dürfen, spürend, wie ein jeder Tropfen die Narbenstruktur jener wagemutigen Pioniere aushöhlt und die Verbindung zwischen ihnen weiter öffnet! Durstige Seelen zu nähren ist wunderschön, doch zwischen Seelen zu fließen, welch göttliche Gnade! Wie schön, mich im Strahlen ihrer Augen wiederzufinden!
Und doch, die Menschen sind ein undankbares Volk. Nähre ich sie, so wollen sie mich in sich bewahren. Nähern sich ihnen andere Seelen, so wollen sie mich benutzen, um andere nach ihren Vorstellungen zu formen. Sie verkennen leider oft meinen natürlichen Aggregatszustand, in dem alleine ich fließen kann. Und so verhärte ich mich in ihnen zu einer Waffe, mit der sie anderen Seelen Wunden aufreißen und den Krieg erklären. Oder ich verflüchtige mich, weil es mir, tief in ihrem Inneren verwahrt, zu heiß wird.
Ich frage nicht ohne Grund, ob es mir gestattet ist, mich vorzustellen oder gar einzutreten. Manchmal trete ich Türen ein, die die Menschen tief in sich verschlossen zu wissen glaubten. Manchmal öffne ich Narbengewebe, damit die Wunden ausheilen können. Manchmal füge ich Schmerzen zu. Mein Name ist Liebe, wenn es mir erlaubt ist, zu fließen, und Hass, wenn es mir verboten wurde.
Sie gestatten?
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