Es war dunkel hier, im Park, und irgendwie ein Stück weit unheimlich, das Grün des beginnenden Frühlings seltsam ergraut, unter der Oberfläche verschwunden. Einzig das Licht des Mondes spiegelte sich in dem kleinen See im Zentrum des Parks und ließ einige wenige Blätter des Baumes einen leichten Grünton annehmen. Spiegelte das beginnende Grün in ihrer Seele, die viel zu lange ergraut, viel zu lange umnachtet gewesen war. Da war nun Licht, Frühling in Sicht, kostbarer Frühling nach einem viel zu langen Winter. Sie umfasste seine Hand fester, Mut fassend, und ließ sich von ihm tiefer in den nächtlichen Park geleiten.
Die Seevögel hatten sie immer wieder aufgeschreckt, sie an ein Lachen von Menschen glauben lassen, die im Dunkel der Nacht durch den Park schlenderten, und sie hatte innegehalten, um zu lauschen. Ein Blick in seine Augen beruhigte sie, nur ein Vogel, keine Gefahr, hatten sie ihr versichert, und so hatte sie sich ihm wieder hingegeben, war ihm verfallen im Dunkel der Nacht. Und später, als der Mond langsam zu verblassen begann und die ersten Strahlen der morgendlichen Sonne eine Ahnung von der Wärme des Tages versprachen, waren sie dem Morgen entflohen, der die Wahrheit offenlegen würde, heimgekehrt in ein allzu bekanntes Leben.
Etwas jedoch war heute anders gewesen. Nach einigen verwirrten Sekunden wurde ihr bewusst, was sie irritierte: Er lag hier bäuchlings in ihrem Bett, sie mit einem Lächeln erwartend. Das hatte er anfangs immer gemacht, mit seiner kindisch-romantischen Ader, die sie an ihm einst lieben gelernt hatte, und der Blume im Mund, als wäre er einer der Helden ihrer Jugendromane. Natürlich war ihnen beiden die Sache rasch langweilig geworden, und so hatten sie die Sache eben alle paar Tage hinter sich gebracht, bis ihnen auch das zu dämlich geworden war und sie angefangen hatten, in verschiedenen Betten, dann verschiedenen Zimmern zu schlafen. Warum also war er nun hier?
„Guten Morgen, Tanja!“, begrüßte er sie mit einem Grinsen, „Schöne Nacht verbracht?“
War er etwas eifersüchtig? Nun, nach all den Jahren der Öde, wollte er sie plötzlich wieder an sich binden? Aber nein, sein Lächeln schien echt zu sein.
„Was willst du, René?“
„Wissen, wie die Nacht für dich so war.“
„Eifersüchtig? Du? Nach all den Jahren?“
„Nein, nicht eifersüchtig. Mach doch, was dir gut tut. Aber interessiert. Wird ja nach all den Jahren doch wieder einmal Zeit, dass ich mich auch für dein Leben interessiere, meinst du nicht? In guten wie in schlechten Zeiten und so weiter, du weißt schon.“
„Du weißt es also?“
„Dass du nur noch wenig zuhause bist? Ich bin vielleicht unaufmerksam, aber blöde bin ich dann auch wieder nicht. Anfangs tat es mir schon weh, das will ich gar nicht leugnen. Aber irgendwann habe ich erkannt, dass ich vielleicht nicht der beste Mann für dich war, und dann habe ich es irgendwie verstanden.“
„Und nun willst du also alles besser machen, damit ich aufhöre, mich mit ihm zu treffen?“
„Glaubst du denn, das würde dir oder mir wirklich helfen?“
„Ich würde es schon schön finden, wenn du dich wieder ein bisschen mehr um mich bemühen könntest.“
„Ich glaube nicht, dass du mich hasst, Tanja. Ich glaube, du kannst mich sogar ganz gut leiden. Vielleicht hast du mich auch irgendwann einmal geliebt, oder kannst mich eines Tages sogar wieder lieben. Aber ich hab‘s wohl ein bisschen verbockt. Und weil ich dich selbst nach dem ganzen Schlamassel immer noch gerne habe und dein Bestes will, wäre es doch doof von mir, dir und deinem Typen da im Wege zu stehen. Wenn es für dich wichtig ist, dann leb dich aus. Ich mach das ja auch seit Jahren. Ja, tu nicht so überrascht! Ich bin vielleicht nicht der beste Mann für dich im Moment, aber das bedeutet nicht, dass andere das ebenso sehen müssen.“
„Warum zur Hölle hast du dann nie die Scheidung eingereicht? Wie viele waren es denn?“
„Ein paar, über die Jahre. Ich mag dich halt, auch wenn wir uns beide verändert haben.“
„Bequemlichkeit also?“
„Nein, eher die Erkenntnis, dass Liebe kommen und gehen muss, um überdauern zu können. Ich dachte, wenn sie ohnehin wiederkommen wird, muss ich mich nicht zwischenzeitlich scheiden lassen.“
„Du bist schon ein seltsamer Mann, weißt du das?“
„Du bist nicht die erste Frau, die mir das sagt.“
„Und du willst mir also sagen, du gehst mir fröhlich fremd, aber willst dann wieder zu mir zurückkehren?“
„So in etwa. Es ist schön, seinem Fernweh nachzugeben, aber auch schön, eine Heimat zu haben.“
„Also, wir beiden sind dann irgendwie zusammen, aber zwischenzeitlich auch mal nicht, je nach Lust und Laune? Ist das nicht irgendwie ein wenig kindisch, ein wenig zu einfach gedacht?“
„Sieh her, meine liebe Tanja, ich mag dich, aber auf Dauer werden wir uns einfach zu langweilig. Kindisch wäre es, das auszublenden und einfach zu hoffen, dass es bei uns nicht so sein wird wie bei allen anderen. Was sollen wir uns nach ein paar Jahren noch erzählen? Aber wenn du dir ein paar Ausflüge auch ohne mich erlaubst, wird das Ganze wieder ein wenig spannender.“
„Du akzeptierst es nicht nur, du willst, dass ich dir fremdgehe? Du bist wirklich ein sehr seltsamer Mann.“
„Du hast gerade meine Theorie bewiesen“, lachte er und zog sie neben sich, „Und schön bist du, mit deinen zerzausten Haaren. Eine Dusche würde nicht schaden, aber sonst… Willkommen zuhause, so nebenbei.“
„Du bist mir ein seltsamer Mann!“, lachte nun auch sie, sich zu ihm setzend, „Aber ein sehr liebenswerter. Na dann erzähl mal, was du in all den Jahren so Interessantes in der ‚Fremde‘ erlebt hast…“
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