Dies ist ein sehr langer Artikel geworden, weswegen ich die einzelnen Prinzipien im Vorfeld anhand der Überschriften als Liste darstellen will. Wer sich nur für bestimmte Prinzipien interessiert, kann dann einfacher herunterscrollen. Er ist deswegen so lang geworden, weil diese 7 Prinzipien eine der Grundlagen meiner neuen Arbeit werden sollen. Eine Version, die auch kleinen Kindern verständlich ist, wird irgendwann folgen. Die Liste der behandelten Prinzipien:
– Das Karma-Prinzip: Radikale Selbstverantwortung
– Das Subsidiaritäts-Prinzip: Wer ist betroffen?
– Der Gleichberechtigungs-Grundsatz: Radikale Inklusion
– Das Eintrittskarten-Prinzip: Trennung von Lernen und Prüfen
– Das Open-Source-Prinzip: Infrastruktur für Hacker
– Das Prinzip der relativen Meister: der Weg zur persönlichen Meisterschaft
– Das Prinzip der konstruktiven Grenzen: Kinder als Erwachsene mit Krücken
Das Karma-Prinzip: Radikale Selbstverantwortung
Was ist das überhaupt: Selbstverantwortung? Nun, das Wort Verantwortung kommt von Antwort, und eine Antwort wird üblicherweise dort gegeben, wo eine Frage aufgetaucht ist. Nach Viktor E. Frankl können wir eine jede Situation unseres Lebens als Frage auffassen, auf die wir eine Antwort geben. Verantwortung zu übernehmen ist somit, auf diese Fragen des Lebens zu reagieren. Selbst-Verantwortung nun geht davon aus, dass es ein handelndes Subjekt gibt, das sich zwischen verschiedenen Antworten entscheiden kann. Aber nach welchen Kriterien entscheidet dieses Subjekt?
Wenn wir den Begriff umkehren und uns überlegen, welches Verhalten wir als verantwortungs-los bezeichnen, werden wir feststellen, dass Verantwortungslosigkeit als ein Verhalten wahrgenommen wird, das die Auswirkungen auf andere Betroffene nicht in die Überlegungen einbezieht – allerdings wird dies im Regelfall nur dann zum Problem, wenn diese Auswirkungen von den Betroffenen als negativ erlebt werden. Ein Handeln, dass entweder andere gar nicht mitbetrifft oder nicht negativ mitbetrifft, wird nicht sehr wahrscheinlich als verantwortungs-los wahrgenommen werden.
Das bedeutet wiederum, dass verantwortungs-volles Handeln darin besteht, bei jedem Handeln zu überlegen, wer davon betroffen sein könnte, und ob dies negative Auswirkungen auf diese Betroffenen haben könnte.
Ist dies der Fall, muss damit gerechnet werden, dass diese eventuell negativ auf das eigene Verhalten reagieren. Das muss nicht zwangsweise ein Problem für den Handelnden darstellen. Aber Selbst-Verantwortung bedeutet, die Reaktionen anderer Menschen als mögliche Konsequenz des eigenen Handelns akzeptieren zu lernen. Selbst-Verantwortung bedeutet, sich selbst als aktiv handelndes Subjekt wahrzunehmen, dessen Handeln (oder auch Nicht-Handeln!) zu Konsequenzen führen wird. Sich als Akteur innerhalb eines komplexen Systems wahrzunehmen, dessen Macht zwar begrenzt, aber nicht unerheblich ist.
Ein System, das dieses Prinzip verwirklichen möchte, wird versuchen, ein Sichtbarmachen der Konsequenzen des Handelns der Akteure zu fördern. Sowie seine Akteure anhalten, sich immer wieder zu überlegen, welche Konsequenzen ihr Handeln für das Gesamtsystem und die anderen Akteure haben könnte. Gerade jungen Menschen ist oft gar nicht bewusst, in welch weitläufigen Systemen sie sich eigentlich bewegen.
Das Karma-Prinzip, obwohl es auf den ersten Blick möglicherweise die Freiräume des Einzelnen auf „gutes“ Verhalten beschränkt, ist in Wahrheit ein Weg in die absolute geistige Freiheit. Wenn mir bewusst wird, dass alles, was ich tue oder unterlasse, Konsequenzen nach sich zieht, die ich (teilweise) vorhersehen kann, bin ich weitgehend frei in meinen Entscheidungen. Manche Antworten auf Situationen, die mir das Leben stellt, werden einfacher zu bewältigende Konsequenzen nach sich ziehen, anderer schaffen schwierigere Folge-Situationen. Aber der Grad meiner persönlichen Freiräume ist nicht mehr abhängig von äußeren Umständen, sondern den Konsequenzen, die ich bereit bin, auf mich zu nehmen und zu tragen.
Das ist radikale Selbst-Verantwortung.
Das Subsidiaritäts-Prinzip: Wer ist betroffen?
Das Karma-Prinzip impliziert weiter, dass die reibungsfreieste Möglichkeit, zu handeln, die Beschränkung auf das eigene Handeln ist, das nur mich selbst (negativ) betrifft. Dies bedeutet umgekehrt, dass es umso schwieriger ist, als negativ erlebte Betroffenheit anderer Menschen zu verhindern, je mehr Menschen von meinem Handeln betroffen sind.
Eine Konsequenz daraus ist es, dass ich, um Verbesserungen in meinem Leben zu erreichen, als ersten Schritt schauen sollte, was ich ändern kann, ohne ein mehrere Menschen umfassendes System ändern zu müssen. Wie kann ich mein Verhalten ändern oder für mich selbst Werkzeuge entwickeln, die das System, das ich mit anderen Menschen teile, nicht berühren? Einige Kinder, die mit unserem offenen Stundenplan in unserer alten Schule überfordert waren, wollten beispielsweise durchsetzen, dass der Stundenplan wieder fixiert wird – was andere, die das System gut fanden, für eine schlechte Idee hielten. Die Lösung, die gefunden wurde, in guter Hacker-Manier, war es, dass diejenigen, die gerne ihren fixen Stundenplan wollten, sich einfach selbst auf ihrem Block einen schrieben. Niemand wurde davon negativ betroffen. Sie konnten sofort handeln.
Umgekehrt bedeutet dies aber auch, dass es schlau sein kann, sich vor dem Handeln die Frage zu stellen, wer von meinem Handeln denn betroffen sein könnte. Wenn wahrscheinlich ist, dass mein beabsichtigtes Handeln sie nicht stören wird, kann ich auch gleich handeln. Aber ich kann sie auch einfach fragen, wenn ich unsicher bin. Daher kommt wohl auch die Grundfrage soziokratischer Entscheidungsfindung: gibt es begründete Einwände gegen X?
Für Änderungen am Gesamtsystem wird es sinnvoll sein, eine formale Möglichkeit für alle Nutzer zu schaffen, diese begründeten Einwände einzubringen. Für das Handeln im Augenblick kann es sinnvoll sein, zu wissen, wer sich davon gestört fühlen könnte. Oft findet sich dann mit diesem neuen Wissen eine Möglichkeit, so zu handeln, dass sich niemand davon negativ betroffen fühlt.
Und wieder: dieses Prinzip verbietet nicht, so zu handeln, dass sich andere negativ davon betroffen fühlen. Aber es erleichtert das Finden eines möglichst störungsfreien Weges.
Der Gleichberechtigungs-Grundsatz: Radikale Inklusion
Es gibt eine große Gefahr in der Förderung der Autonomie und Selbstverantwortung: die Deklarierung mancher Menschen oder ihrer Bedürfnisse als irrelevant für die eigene Entscheidungsfindung. Dies zeigt sich in der „großen“ Politik, wenn Bedürfnisse bestimmter Bevölkerungsgruppen von vornherein als nicht bedeutsam abgetan werden, aber auch in kleineren sozialen Systemen wie Schulklassen, wo bestimmte Kinder von anderen nicht in ihre Überlegungen einbezogen werden, „weil sie dick sind“ oder aus welchen Gründen auch immer.
Bis zu einem gewissen Grad muss ein soziales System es auch aushalten, dass sich ihre Akteure unterschiedlich gern haben. Aber dies darf nicht dazu führen, dass die Würde einiger untergraben wird. Wo dies geschieht, ist die Autorität erwachsener Führungsfiguren eine absolute Notwendigkeit, um gefährliche Selbstläufer zu verhindern. Hier trifft wiederum das Prinzip der radikalen Selbstverantwortung zu, das auch Nicht-Handeln einschließt. Martin Luther King Jr. sagte in einer berühmten Rede, dass am Ende nicht das Ausmaß der Verbrechen Kopfschütteln auslöst, sondern die Masse derjenigen, die es zuließen. Erwachsene mit ihrer Lebenserfahrung, die auch das Problem der sich selbst verstärkenden Negativ-Spiralen kennen, müssen hier durch ihr eigenes Handeln als Vorbild wirken, wo Kinder aufgrund ihrer zu geringen Vorerfahrung es schwer haben, die langfristigen Konsequenzen ihrer Handlungen abzuschätzen. Zumindest gehört es zur Pflicht der Erfahreneren, die möglichen Konsequenzen im Vorfeld anzusprechen. Im falschen Moment zu schweigen kann gefährlich sein.
Dies ist einer der Aufgaben des gemeinsam zu schaffenden und weiterzuentwickelnden Systems, das die Aufgabe hat, die Bedürfnisse aller in sich so zu koordinieren, dass die Würde der Beteiligten unangetastet bleibt – und jeglicher Versuch, dies doch zu tun, entsprechend abgewehrt wird. Etwa wenn begründete Einwände bei Systemänderungen von den Mitschülern als „dumm“ abgetan werden, weil sie von einem bestimmten Schüler stammen. Da ist es Aufgabe der Erwachsenen, den Gleichberechtigungsgrundsatz auch konsequent zu schützen.
Das Eintrittskarten-Prinzip: Trennung von Lernen und Prüfen
Diese Idee habe ich aus einem Buch von Carl Rodgers entnommen. Er schreibt darin sinngemäß, dass er es für nicht sinnvoll halte, Prüfungen für alle gleichmäßig und gleichzeitig durchzuführen, als wären sie ein Diagnose-Instrument eines Arztes, der eine „gute Entwicklung“ feststellen möchte. Vielmehr schlägt er vor, die Sache umzudrehen, Prüfungen freiwillig zu machen, aber von ihrem Bestehen das Öffnen neuer Frei-Räume abhängig zu machen – etwa wie das Ablegen der Führerschein-Prüfung, die zum Autofahren berechtigt. Wer gewisse Prüfungen nicht ablegen will oder kann, tut dies eben nicht – mit den entsprechenden Konsequenzen.
Weitergedacht kann dies bedeuten, dass jemand, der die entsprechenden Prüfungen für die 2. Schulklasse nicht abgelegt hat, vielleicht nicht in die 3. Klasse aufgestuft werden kann – aber dass er auch, wenn er entscheidet, dass es eine blöde Idee war, das nicht zu machen, weil er beispielsweise nicht mehr so viel mit seinen Freunden zusammen sein kann, die Prüfungen der 2. und der 3. Klasse machen kann, um bald wieder mit ihnen zusammen zu sein. Es ermöglicht Kindern, die Konsequenzen ihrer Handlungen tatsächlich spüren zu können, anstatt durch immer wiederkehrende Diagnose-Veranstaltungen durchgezogen zu werden, um festzustellen, wie gut oder schlecht sie sich entwickelt haben.
Eine weitere Folge des Eintrittskarten-Prinzip ist auch jene, die ich als erstes bei Ivan Illich gelesen habe: es ist möglich, das Lernen vom Prüfen zu trennen. Wenn ich alle Prüfungen als Eintrittskarten vordefiniere, und festlege, welche Konsequenzen ein Ablegen oder Nicht-Ablegen dieser Prüfungen hat, ist nicht nur erreicht, dass ein Kind bewusst entscheiden kann, ob es die Konsequenzen für wünschenswert hält. Es ist auch erreicht, dass es ein Ziel hat, zu dem viele Wege führen können, aber das es sich selbst vorgenommen hat. Und plötzlich will nicht mehr der Lehrer das Kind auf die Prüfung vorbereiten, weil XY eben zur Prüfung kommt, und die ist für alle am 14. Oktober. Nein, das Kind selbst will bei einer Prüfung beweisen, dass es XY beherrscht, weil es die Konsequenzen für positiv hält. Und wird – wo nötig – den Lehrer bitten, ihm zu helfen. Oder eigene, kreative Wege finden, sein Ziel zu erreichen.
Das Open-Source-Prinzip: Infrastruktur für Hacker
„Open Source“ bedeutet in der Informatik erst einmal vor allem eines: nicht nur das fertige Programm wird dem Nutzer zur Verfügung gestellt, sondern auch der Source-Code, mit dem das Programm erstellt wurde. Wer sich mit Informatik ein wenig auskennt, weiß vermutlich um die Konsequenzen dieses Vorgehens. Für alle anderen eine kurze Beschreibung:
Den Source-Code zu besitzen bedeutet, dass es einem jeden mit entsprechender Programmier-Erfahrung, der sich die Zeit nehmen will, das zu machen, möglich ist, das Programm so zu verändern, dass es noch besser seinen Bedürfnissen entspricht. Es bedeutet ebenso, dass man verstehen kann, wie ein Programm intern funktioniert, und somit einfacher mit diesem Programm kommunizierende Hilfsprogramme erschaffen kann. Und viele derjenigen, die Veränderungen am Programm vorgenommen haben, teilen auch diese Veränderungen wieder mit allen, die dies möchten. Je mehr Menschen so zusammenkommen, desto diverser wird die Auswahl für jeden weiteren Nutzer. Und was vor allem auch eine sehr wertvolle Sache ist: gute Programmierer kommentieren, begründen ihren Source-Code. Aus diesen Kommentaren lässt sich meist herauslesen, was sie sich damit gedacht haben – und damit auch, ob die eigenen Ideen, etwas daran zu ändern, auch wirklich alle Konsequenzen bedacht haben.
Auf die Schule bezogen bedeutet dies beispielsweise, dass man nicht nur das soziale System selbst, sondern auch die Überlegungen, die dazu geführt haben, öffentlich und schriftlich zugänglich machen kann. Anstatt als Nutzer (Schüler) hilflos einem System zu unterliegen, das man nicht versteht, ist es so einem jeden Schüler möglich, selbst nachzulesen, wie es ist, warum es so ist, und wie er es verändern kann. Änderungsanträge können basierend auf dem aktuellen System abgehandelt werden, und begründete Einwände aus den Konsequenzen für das aktuelle System abgeleitet werden. Eine gewisse Kontinuität entsteht.
Die zweite Angewohnheit Open-Source-Entwickler, ihre Weiterentwicklungen mit anderen zu teilen, lässt sich ebenso auf den Schulbetrieb übertragen. Wenn einzelne Nutzer (Schüler) für sich selbst „Hacks“ (Werkzeuge) entwickeln, mit dem bestehenden System besser umgehen zu können, und diese mit anderen teilen, erhöht sich die Chance, dass diese wiederum ebenfalls diese Hacks weiterentwickeln und wieder mit der Gemeinschaft teilen.
Aus dem Open-Source-Prinzip lässt sich auch ein einfacher Weg ableiten, das gemeinsame System so zu verändern, dass die Bedürfnisse der Beteiligten gewahrt bleiben, ohne potentiell gute Ideen auszuschließen. Normalerweise gibt es ein Entwickler-Kern-Team, das über Änderungen am Haupt-Programm entscheidet, während ein jeder für sich selbst Änderungen an dem selbst modifizierten Programm vornehmen kann, wie man möchte. Jeder kann Änderungen, die er für generell sinnvoll hält, anbieten, aber das Kernteam entscheidet letztlich. In der Schule wäre das Kernteam das jeweilige soziale System, das die Möglichkeit bekommen sollte, begründete Einwände gegen Änderungsanträge zu bringen – aber diese Anträge können von allen kommen: Lehrern, Eltern, Schülern, außenstehenden Personen, wer auch immer. Das wäre auch eine sehr simple Lösung des Macht-Problems an vielen freien Schulen: die, die betroffen sind (Lehrer wie Schüler) können begründete Einwände bringen, die eine tatsächliche Veto-Funktion darstellen, während nicht direkt betroffene Personen (z.B. Eltern) ebenso Einwände bringen können, die jedoch nur Anhörungs-Funktion haben und keine Veto-Funktion. Ist der Einwand überzeugend, können diejenigen mit Veto-Recht ihn einfach übernehmen.
Eine Konsequenz des Open-Source-Prinzips könnte aber auch ein Sichtbarmachen der verschiedenen Interessens-Gruppen und ihrer Interessen sein, die das System Schule beeinflussen. So wird den wenigsten Kindern wirklich bewusst sein, welche Interessen ihrer eigenen Eltern (z.B. Aufsicht, Zeit für sich selbst) oder der Gesellschaft (Weitergabe der Erfahrung, Selektion, …) eigentlich auch in den Schulbetrieb einfließen. Diese Interessen und ihre Begründungen sichtbar zu machen, kann es erleichtern, sein Handeln entsprechend abzustimmen – und helfen, sich noch deutlicher als relevanter Teil eines größeren Ganzen wahrzunehmen.
Das Prinzip der relativen Meister: Der Weg zur persönlichen Meisterschaft
Normalerweise herrscht in der Schule ja eine Form vor, die ich das Prinzip der absoluten Meister nennen würde. Es gibt 1-2 absolute Meister (die Lehrer) und eine große Anzahl an absoluten Schülern. Ein absoluter Meister ist dabei jemand, der „wirklich viel“ über ein Thema weiß und entsprechend berechtigt ist, sein Wissen und seine Erfahrung an Schüler weiterzugeben. Das Problem an der Sache ist nur, dass dieses Vorgehen völlig ineffizient bis beinahe schwachsinnig ist. Es hat die Folge, dass 1-2 Menschen im Durchschnitt 20-25 teils sehr unterschiedliche andere Menschen mit ihren Erfahrungen „befüllen“ sollen. Stellen sie sich vor der Klasse hin und machen den traditionellen Frontalunterricht für alle, ist es in Wahrheit fast unmöglich, das so zu machen, dass niemand dabei ist, der nicht unter- oder überfordert ist. Je größer die Abweichungen, desto größer die Chance, dass Kinder „aussteigen“, sich mit etwas anderem beschäftigen – also das, was üblicherweise als „den Unterricht stören“ bezeichnet wird.
Nun hat sich in den letzten Jahren ja der Begriff der Individualisierung etabliert, dass also Lehrer dafür sorgen sollen, dass alle Schüler möglichst so gefördert werden sollen, wie es für sie gerade am besten passt. Manche Lehrer meinen dann, das geht ja gar nicht, und lassen es gleich bleiben, andere rackern sich einen ab, um zumindest individualisierte Gruppen anbieten zu können, wenn sie nicht gleich den Weg ins Burnout gehen, wirklich alles für jeden Schüler einzeln vorzubereiten. Dabei wäre der Weg aus der Misere so einfach: die Individualisierung in die Hände der Schüler zu legen. Die sind nämlich schon von vornherein Individuen, und müssen gar nicht mehr individualisiert werden. Und am allereinfachsten und effizientesten lässt sich so etwas umsetzen mit einer Variante dessen, was ich „Prinzip der relativen Meister“ nenne.
Dieses Prinzip besagt zusammengefasst, dass es in einer Gruppe von Menschen zwar oft nur wenige Menschen gibt, die absolut gesehen als „Meister“ bezeichnet werden könnten, aber sehr viele, die relativ gesehen zu anderen in bestimmten Bereichen mehr Wissen oder Erfahrungen aufweisen. Und dass es für 90% des Lernens (vor allem jenem, das in Selbstverantwortung passiert) ausreicht, jemanden zu haben, der einfach nur relativ gesehen besser ist als ich. Um als Migrant mit wenigen Deutsch-Kenntnissen Deutsch zu lernen, brauche ich nicht zwingend einen Sprachexperten. Vielleicht reicht für vieles davon auch einfach jemand, der (besser) Deutsch kann und sich freundlicherweise Zeit nimmt, mit mir zu üben. Um Lesen zu lernen, brauche ich nicht zwingend einen ausgebildeten Lehrer. Vielleicht hilft mir auch ein Mitschüler dabei, der es schon ein wenig besser kann.
Wenn man das Prinzip der relativen Meister auf eine Klasse anwendet, wird aus einer 1:25-Konstellation (1 absoluter Meister, 25 absolute Schüler) plötzlich ein enorm weitverzweigtes Netzwerk an relativen Meistern, die extrem viel voneinander lernen können. Dadurch, dass der Lehrer nicht mehr der einzige Mensch in der Gruppe ist, von dem man lernen kann, was man lernen will, kann man sich als Schüler plötzlich denjenigen als Lernpartner aussuchen, bei wem man am besten lernt. Und nicht nur Personen: auch Bücher, Materialien, das Internet und so weiter können relative Meister darstellen. Und umgekehrt kann der Lehrer (oder jeder, der die Rolle des relativen Meisters einnimmt) nun guten Gewissens Bedingungen für seine Hilfe stellen. Als absoluter Meister sind seine Schüler auf ihn und ihn allein angewiesen, was es moralisch fragwürdig macht, nervende Schüler von den eigenen Erläuterungen auszuschließen. Wenn ein Schüler nun aber mehrere Möglichkeiten zur Auswahl hat, etwas zu lernen, kann der relative Meister guten Gewissens auf seine Bedingungen bestehen. Hält sich ein Schüler nicht daran, muss sich dieser eben einen anderen relativen Meister suchen, von dem er lernen kann.
Das Prinzip der relativen Meister beschränkt sich nicht nur auf die üblichen Schulfächer, und ermöglicht es auch auf sehr einfache Weise, dass auch Erwachsene von Kindern lernen, die ihre relativen Meister werden. So habe ich etwa vor einigen Tagen von einem Kind den Kopfstand gelernt. Viele Kinder mit Migrationshintergrund können Sprachen, die Lehrer nicht können – warum nicht von jenen lernen, wo sie dich offensichtlich relative Meister in jener Disziplin sind? Natürlich sind durch den Lehrplan gewisse Standards vorgegeben, die die Kinder jeweils zumindest in etwa erreichen sollten, aber wer sich praktisch mit dem Prinzip der relativen Meister beschäftigt, wird rasch feststellen, dass diese Standards ohne dem künstlichen Flaschenhals der absoluten Meisterschaft in sehr kurzer Zeit von den Kindern erreicht werden können – warum sich also nur auf diese Standards beschränken, wo es doch in dieser Welt so viel mehr Interessantes zu entdecken und lernen gibt?
Der relative Teil dieser „sozialen Relativitäts-Theorie“ birgt auch noch eine weitere, vielleicht nicht auf den ersten Blick sichtbare Konsequenz: wer anderen etwas beibringt und sich selbst nicht weiterentwickelt, wird irgendwann von ihnen überholt. Um relativer Meister zu sein, muss man sich in der Vergangenheit Wissen oder Erfahrungen angeeignet haben. Aber um relativer Meister zu bleiben, muss man immer wieder an sich arbeiten.
Aber welches Interesse haben Kinder denn überhaupt, anderen etwas beizubringen? Wäre es nicht der einfachere Weg, relativer Meister zu bleiben, indem man anderen einfach nichts beibringt? Dies erscheint nur auf den ersten Blick logisch. Auf den zweiten Blick wird klar, dass es nicht sehr vertrauenserweckend klingt, zu behaupten, man sei ein „Meister“, ohne es jemals zu demonstrieren. Und der einfachste Weg, etwas zu demonstrieren, ist anderen Menschen zu helfen – entweder, indem man Dienstleistungen für sie erbringt, etwas für sie herstellt oder ihnen dabei hilft, es selbst zu schaffen. Wenn man den Tipps für Blogger Glauben schenken darf, dann sollte man nach Möglichkeit versuchen, Geld damit zu verdienen, indem man bestimmte, besonders gute Artikel erst gegen Geld zugänglich macht. Aber ich glaube, das ist nicht der schlaueste Weg. Der schlaueste Weg ist es, anderen mit seiner Arbeit zu dienen. Wenn diese Arbeit Sinn macht und gut ist, entsteht ein positiver Ruf, der langfristig mehr wert ist als das Geld, das kurzfristig mit anderen Mitteln verdient werden könnte. So habe ich etwa meine letzten drei Arbeitsstellen zu einem nicht geringen Teil auch deswegen bekommen, weil ich hier regelmäßig – und frei aufrufbar – darüber schreibe, was ich denke und tue.
Nun wird der geneigte Leser wohl vielleicht ein Killer-Argument anführen wollen, das das Prinzip der relativen Meister zunichtemachen soll: werden die Kinder dann nicht die Erfahrung machen, dass ihre selbstgewählten relativen Meister oft eine schlechte Wahl waren? Dass sich die Aussagen verschiedener relativer Meister womöglich widersprechen, was für weitere Verwirrung sorgt? Ja, das wird passieren. Aber dadurch, dass alle Menschen als relative, nicht absolute Meister angesehen werden, ist klar, dass ebenso alle Menschen noch nicht am Ende ihres Lernens angelangt sind. Dass sie Irrtümern unterliegen können, aber auf der Suche nach der Wahrheit und nach Verständnis sind. Dass es auch verschiedene Ansichten zu einem Thema geben kann, die beide gleichzeitig wahr erscheinen können. Dass alles Wissen und jede Erfahrung am Ende nur eine Annäherung an die Wahrheit sein kann, und deswegen ein Stück weit auch Glaube bleiben muss. Und dass es deswegen notwendig ist, eine eigene, interne Instanz zu entwickeln, die zwischen den verschiedenen Ansichten der relativen Meister vermittelt, um die jeweils nächsthöherer Ebene des Verständnisses zu erreichen, die beide Ansichten sinnvoll in sich inkludieren ann.
Das Medium, das dafür verantwortlich ist, dass ein Festhalten an absoluten Meistern in der heutigen Zeit zunehmend absurd erscheint, ist das Internet. Durch das Internet wurde das alte System des „einer sendet, alle anderen empfangen“ aufgebrochen. Jeder kann schreiben, und zwar jeden Blödsinn, der ihm einfällt. Für jeden mit einem Internet-Zugang ist es in Wahrheit notwendig, diese interne Instanz zu besitzen, die zwei Sachen für ihn entscheidet. Erstens: ist das, was ich gerade lese, glaubwürdig? Und zweitens: welche der schier unendlichen Seiten und Informationsquellen rufe ich auf? Einem absoluten Meister einige Jahre lang zu folgen, der mir erzählt, was ich zu tun habe, hilft mir bei beiden Fragen nicht wirklich weiter.
Die Ausbildung dieser Fähigkeiten in der Schule zu vernachlässigen, indem weiter an einem Prinzip der absoluten Autorität festgehalten wird, halte ich nicht nur für ineffizient, sondern sogar für fahrlässig. Wenn Kinder heranwachsen, die von der Zwiespältigkeit der Welt ferngehalten wurden und unreflektiert daran glauben, was ihnen Autoritäten erzählen – was wird passieren, wenn jene Kinder, nun zu Jugendlichen oder jungen Erwachsenen geworden, später im Internet auf Texte stoßen, die mit der angeblichen Autorität eines selbstbetitelten „Wissenschaftlers“, „Experten“, „Theologen“ oder gar „Gottes“ werben? Das meiner Ansicht nach durchaus erstrebenswerte Ziel, junge Menschen anzuleiten, ein persönliches Gewissen auszubilden, damit sie später auf extremistische Strömungen selbst-bewusst reagieren können, fängt im eigenen Verhalten der Erwachsenen an, die ihre eigenen Worte entweder als absolut wahr präsentieren oder auch eine gewisse Relativierung, einen gewissen Raum für Widersprüche und Kritik zulassen können.
Das Prinzip der relativen Meister ist auch deswegen ein sehr wichtiges für mich, weil man davon ein Konzept für lebenslanges Lernen ableiten kann, das über die Schulzeit selbst weit hinausreicht. Will man relativ zu anderen „Meister“ bleiben, muss man sich immer wieder selbst weiterentwickeln. Und will man auch als relativer Meister anerkannt werden, ist es der einfachste Weg, anderen mit dem, was man kann, zu dienen. Dabei entsteht ein gewisser Ruf. Und dieser Ruf kann sehr hilfreich sein, wenn man sich etwa später bei einer Arbeitsstelle bewerben möchte, oft hilfreicher als irgendwelche Schulabschlüsse, die nicht gerade dazu dienen, sich von der Masse an Menschen mit den gleichen Schulabschlüsen abzuheben. Oder eben kontraproduktiv, wenn man sich durch seine Handlungen einen schlechten Ruf erarbeitet hat. Womit der Kreis zur radikalen Selbstverantwortung sich wiederum schließt.
Das Prinzip der konstruktiven Grenzen: Kinder als Erwachsene mit Krücken
Es ist eigentlich sehr simpel: Wie kann mein soziales System Erwachsenen einen echten und spürbaren Lernvorteil gegenüber dem eigenständigen Lernen für sich bieten? Leistet mein System dies nicht, wird es niemand nutzen, der nicht dazu gezwungen wird. Oder, anders ausgedrückt: Wenn es meinen Schülern freistünde, mein System zu nutzen oder auch nicht – ist es gut genug, dass sie es trotzdem nutzen? Wenn nicht, sollte man meiner Ansicht nicht den Weg gehen, die Schüler dazu zu zwingen (wie es die Regelschule tut), sondern das System so lange verbessern, bis sich das ändert. Alle Methoden und Systeme, bei denen Erwachsene durchdrehen würden (und in den meisten Schulen wimmelt es nur davon, etwa dass man fragen muss, wenn man aufs Klo muss. Oder der Lehrer bestimmt, mit welchem Stift eine Überschrift geschrieben wird), können erst einmal rausgeworfen werden. Das, was überbleibt, sollte für Erwachsene dann tatsächlich sinnvoller sein, als für sich selbst zu lernen.
Sobald das System für Erwachsene sinnvoll ist, gibt es eine sinnvolle Basis, die die Kinder, wenn sie später einmal erwachsen werden, immer noch für ihr weiteres, lebenslanges Lernen nützen können. Es gibt eine Art von „Ziel-System“, auch wenn die jungen Schüler mit diesem Ziel-System jetzt möglicherweise noch nicht alleine umgehen können. Erfahrungen aus der Erwachsenen-Bildung können bei der Erschaffung hilfreich sein, aber auch, ein System von vornherein so anzulegen, dass es verschiedene Rollen (z.B. relativer Meister, relativer Schüler) gibt, die unabhängig vom Alter oder den beruflichen Rollen der Beteiligten ausgefüllt werden können – z.B. dass auch ich als Lehrer Schüler meiner Schüler werden kann, und damit auch erlebe, wo mein System ineffizient oder schlicht unsinnig ist.
Sobald dieses Ziel-System definiert ist, kann davon ausgehend festgestellt werden, welche Fähigkeiten einzelnen Nutzern eigentlich fehlen, es eigenständig zu nutzen. Möglicherweise besteht ein Teil des Systems daraus, dass ein großer Teil der Kommunikation schriftlich geschieht, aber noch nicht alle Kinder können (so gut) lesen. Normalerweise würden nun vermutlich alle Beteiligten dazu gezwungen werden, sich regelmäßig zu treffen und so die Vorteile der schriftlichen Kommunikation erfolgreich wieder zunichte gemacht. Aber es wäre auch denkbar, eine Art „Krücke“, ein Hilfswerkzeug zu entwerfen, mit dem das entsprechende Kind, das noch nicht lesen kann, das System „hacken“ kann. Beispielsweise könnte es jemanden finden, der bereits lesen und schreiben kann, und ihm um Hilfe bitten. Oder, wenn das Bedürfnis danach bei vielen besteht, eine Art regelmäßige Versammlung einführen, bei dem für alle, die noch nicht rein schriftlich kommunizieren können, eine Art Schnittstelle zwischen mündlicher und schriftlicher Kommunikation angeboten wird.
Der Trick ist jener, das die Nutzung dieser „Hacks“ jeweils individuell und freiwillig geschehen kann. Niemand muss sich schämen, diese Hilfsmittel zu verwenden, weil sie ja noch Kinder sind und von ihnen auch gar nicht erwartet wird, dass sie das schon ohne Hilfsmittel können. Aber diejenigen, die schon viel ohne diese Hilfsmittel schaffen, können sich entscheiden, sie wegzulassen. Und diese Krücken wegzulassen, sorgt für mehr Bewegungs-Freiheit. Z.B. mag es dann nicht mehr notwendig sein, wöchentlich einer Kreisversammlung beizuwohnen, weil das Kind die Protokolle auch selbst lesen kann. Jede Überwindung einer „Krücke“ durch das Erwerben neuer Fähigkeiten führt zur Erweiterung der persönlichen Freiräume des Kindes.
Aber wie können Kinder selbst einschätzen, ob sie schon reif sind, eine Krücke nicht mehr zu verwenden? Indem sie die Möglichkeit bekommen, es auch ohne auszuprobieren, und dann sehen, ob sie „auf die Schnauze fallen“ oder bestehen. Das Kind, das nicht mehr die Versammlung besucht, aber danach vergisst, die Protokolle nachzulesen, verpasst vielleicht deswegen einen Termin, der ihm wichtig war. In der Folge wird es entweder lernen, das nächste Mal die Protokolle zu lesen, oder vielleicht doch wieder an der Versammlung teilnehmen – oder eine kreativere Lösung finden. Aber das Kind entscheidet anhand der erlebten Konsequenzen des eigenen Handelns, welche Freiheitsgrade es mit seinen Fähigkeiten schon bewältigen kann. Dabei passieren natürlich Fehleinschätzungen, dabei entstehen natürlich auch Frusterfahrungen, oder Kinder verwenden Krücken weiter, die sie lange nicht mehr benötigen würden. Aber die Konsequenzen eines eingeschränkteren Freiraumes tragen ebenso die Kinder selbst. Hier findet sich auch eine logische Schnittstelle zum Eintrittskarten-Prinzip. Auch Prüfungen können als konstruktive Grenzen fungieren.
Konstruktive Grenzen bewusst und transparent einzuführen kann beispielsweise auch bei so simplen Sachen funktionieren wie einem Gesprächskreis. Bei Erwachsenen würde man (hoffentlich) davon ausgehen können, dass sie es schaffen, einander zuzuhören, und zwar ohne einen Sprech-Stein oder sonstiger Hilfsmittel. Das wäre ein Ziel. Wenn das bei Kindern noch nicht gut funktioniert, kann man beispielsweise vorschlagen, den Gesprächsstein einzuführen, bis es auch ohne klappt. Fragen, was denn notwendig sei, damit er nicht mehr gebraucht wird, oder wie man das denn üben könnte. Und dann immer wieder vorzuschlagen, mal einen Testlauf zu machen, ob die konstruktive Grenze noch notwendig ist. Oder ob es noch notwendig ist, dass der Lehrer die Kinder zum Anstellen einzeln aufruft. Oder – besonders interessant – die Kinder fragen, welche strukturierende Hilfe sie noch als notwendig erachten, und ihnen genau diese zu geben.
Kinder sind da im Regelfall sehr feinfühlig, welches strukturierende Eingreifen des Lehrers auch die individuellen Freiräume begrenzt, und oft nicht unmotiviert, so an sich zu arbeiten, dass dieses Eingreifen oder stützende Systeme immer weniger notwendig werden. Es geht (siehe 6. Prinzip) ein Stück weit um das Erweitern der eigenen Meisterschaft in der Selbst-Disziplin, wie auch Maria Montessori schreibt. Jegliche äußere Disziplin, die die fehlende innere Disziplin ausgleichen soll, um einen Zweck zu erreichen, sollte von vornherein so ausgelegt sein, dass sie irgendwann durch das Erreichen der entsprechenden inneren Disziplin überwunden werden kann.
Niklas
P.S.: Ich bin für Anregungen und Kritik offen, wie sich diese Prinzipien weiterentwickeln, vereinfachen oder erweitern lasen könnten. In den nächsten Tagen wird wohl mehr folgen. Bis dahin wünsche ich ein schönes Wochenende 🙂
P.P.S.:
Vielen Dank an Katja für ihren Kommentar! Ich habe das 7. Prinzip mit den konstruktiven Grenzen als Antwort noch hinzugefügt.