Was blieb nun, von all den großen Träumen, was blieb nun, hier in seinem kleinen Zimmerchen, was blieb noch zu tun, als die Sache zu Ende zu führen? Die Eltern waren außer Haus, und die Geschwister ebenso. Niemand hier, ihn aufzuhalten, alles gut durchdacht. Schon lange hatte er mit dem Gedanken gespielt, seinem Leben und seinem Leiden ein Ende zu setzen, hatte mit seinen Freunden die möglichen Methoden diskutiert. Und nun, heute, an diesem verregneten Tag, war es wohl an der Zeit, endlich nicht mehr nur darüber zu reden. Und doch, die Frage quälte ihn: Was würde bleiben?
Das Messer in der Hand wiegend, sein Gewicht fühlend, versuchte er, seinen Geist zu beruhigen. Wahrscheinlich war es nur der Überlebensinstinkt seines Körpers, der ihn nun dazu brachte, alles wieder und wieder zu hinterfragen. Dieses Stück Fleisch, Muskeln und Knochen wollte immer nur überleben. Als würde es einen tieferen Sinn haben, tagein, tagaus seine Nutella-Brote in sich hineinzustopfen, von den selben Mitschülern angepöbelt zu werden und sich mit der Frage zu quälen, wie irgendein Mensch einen Menschen wie ihn lieben würde können. Zu leben war zu fragen, zu zweifeln, zu leiden, und nach so vielen Jahren des Zweifels war er es Leid geworden, auf einen nächsten Tag zu hoffen, an dem sich alles wie durch ein Wunder ändern würde. Nichts würde sich ändern an dieser Welt. Aber er konnte sie verlassen. Alles, was es dazu brauchte, war eine schnelle Bewegung, ein kurzer Stich. Und doch, wieder: was würde bleiben?
Und plötzlich fiel es ihm wie Schuppen vor den Augen: es war an ihm, zu entscheiden, was bleiben sollte. Es war an ihm, zu entscheiden, warum er leben sollte. Sein ganzes Leben hatte er sich gefragt, warum er überhaupt am Leben war, wo das Leben doch nur Leid für ihn bereit hielt, wem er verpflichtet war, weiterzuleben, wenn doch die Entscheidung zu leben nicht von ihm selbst getroffen worden war. Seinen Eltern? Einem Gott?. Doch nun, mit der Entschlossenheit, seinem Leben ein Ende zu setzen, fühlte er sich plötzlich frei, fühlte eine gewaltige Wahrheit in sich aufdämmern.
Erst wer bereit war, zu sterben, war Herr über sein Leben. Wie lächerlich waren doch von dieser Warte aus betrachtet jene, die ihm das Leben schwer machen wollten? Er konnte seinem Leben jetzt ein Ende setzen. Oder morgen. Oder in einem Jahr. Wenn Leben auch Leiden bedeutete, so würde er sich fortan für sein Leben und damit das dafür manchmal notwendige Leiden entschieden haben. Es war allein seine Entscheidung, zu leben, jeden Tag, jeden Augenblick aufs Neue, seine Entscheidung, dieses Leben mit all seinen Freuden und all seinem Leiden aufs Vollste auszukosten, oder es zu beenden.
Und dann erkannte er, dass von ihm bleiben würde, wofür er bereit war zu leiden, vielleicht auch zu sterben, vor allem aber, wofür er bereit war zu leben. Von jenem Tag an kümmerte es ihn nicht mehr, wenn ihm Menschen vorwarfen, ihren Vorstellungen nicht zu entsprechen, weil er wusste, dass es nicht seine Aufgabe war, ihr Leben zu leben. Es war seine Entscheidung, zu leben, und seine Aufgabe, eine Antwort auf die Frage zu finden, wie er selbst leben wollte, wie es ihre Entscheidung war, zu leben, und ihre Aufgabe, Antworten auf ihre eigenen Fragen zu finden. Und eines jeden Menschen Verantwortung, mit den Konsequenzen seiner Entscheidungen zu leben.
Das Leben war schon seltsam, dass es manchmal erst die Bereitschaft zum Sterben brauchte, um einen Sinn im Leben zu finden. Was würde also am Ende bleiben, warum leben?
„Weil ich mich dafür entschieden habe.“, dachte der Alte lächelnd, bevor er die Augen für immer schloss.
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