In den letzten Wochen war ich auf „Heimaturlaub“ in Österreich, war viel unterwegs und hatte nicht immer die Zeit bzw. den Internetzugang, um neue Geschichten zu veröffentlichen. Ab heute geht es wieder wöchentlich weiter.
Da lag sie nun, auf diesem harten Boden, der eigentlich auch hätte kalt sein müssen, denn immerhin war der Frühling noch lange nicht angebrochen. Wahrscheinlich war er auch kalt, doch sie fühlte nichts davon. Genauer gesagt fühlte sie im Grunde genommen gar nichts. Sie konnte die um ihren gefallenen Körper umherschwänzelnden Menschen beobachten, die besorgten Gesichter, den Mann, der bereits zum wiederholten Male hastig in sein Handy tippte und es danach kopfschüttelnd zu seinem Ohr zurückführte. Vielleicht hatte er versucht, den Notruf zu wählen. Oder er war dabei, seine Freunde anzurufen, um der erste zu sein, der ihnen die Neuigkeit erzählte. Wobei er dann sein Handy vermutlich eher dazu verwendet hätte, die Situation auf Video festzuhalten. Es handelte sich bei ihm wohl tatsächlich um einen jener Menschen, die sich selbst für sozial genug hielten, um in Krisensituationen zumindest den Anschein erwecken zu wollen, dass sie Hilfe holen wollten.
Sie sah all diese Menschen, aufgeregte und weniger aufgeregte, Menschen, für die ihr eigener Fall die Sensation des Abends zu sein schien, und andere, die ihren regungslosen Körper als einen völlig natürlichen Teil des Programms hielten. Sie sah die Männer in den roten Westen sich eilig einen Weg durch die apathische Masse der Feiernden bannen, sah den Notarzt, der etwas auf sie einredete, was sie nicht verstand, und die Helfer, die ihren Körper berührten, als könnten sie ihm dadurch die gewünschte Reaktion entlockten. Sie sah all dies und mehr, aber sie fühlte nichts.
Während der kleinen Trupp sie auf einer Bahre aus dem Festbereich schob, vorbei an kopfschüttelnden Menschen und den üblichen Kommentaren und Blicken, schweifte ihr inneres Auge zurück an jenen Ort, an dem ihr gesellschaftlicher Aufstieg begonnen hatte, zu jenem Moment, der aus einer durchschnittlichen jungen Frau eine völlig andere hatte werden lassen. Seine einst wohl üppig vorhandene Haarpracht war zu einem sanften Silberkranz verblasst – das war das Erste gewesen, was ihr an ihm aufgefallen war. Sie sah die Überreste seiner einstigen Frisur, aber dachte an den Zenit seiner Haarpracht. Etwas war an diesem Mann, etwas Besonderes. Sein Lächeln verriet, dass er ihre Gedanken erraten hatte. „Folgen Sie mir“, meinte er, „sie werden es nicht bereuen.“
Also war sie seinem Rat gefolgt und hatte gelernt, zu glänzen. Für einen Modeschöpfer hatte sie ihn zu Beginn gehalten, obwohl er immer betonte, er „schaffe Menschen, keine Mode“. Bereits nach einigen Wochen war ihr aufgefallen, dass ihr plötzlich Passanten bewundernde Blicke nachwarfen. Sie hatte festgestellt, dass es ihr Spaß machte, andere Menschen zu verzaubern, ihre Blicke bewusst zu lenken, ihre Gedanken nicht nur zu lesen, sondern auch zu steuern. Bald wusste sie, wie sie sich zu bewegen hatte, um den Mann mit der lässig zurückgeschobenen Sonnenbrille dazu zu bewegen, überrascht einzuatmen, wusste sie, wie sie die schimpfende alte Dame dazu bringen konnte, über die Jugend von heute positiver zu denken. Sie lernte die Menschen lesen, lernte ihre Bedürfnisse auf einen Blick zu erfassen und ihnen zu geben, was sie wollten, um zu bekommen, was sie wollte. Das Leben war überraschend einfach, sobald man es einmal verstanden hatte.
Nach einigen Monaten war sie derart beliebt geworden, dass sie sich vor Anfragen kaum mehr retten konnte. Hier war eine Charity-Veranstaltung, da war eine Reporterin, der sie ihre Styling-Tipps verraten sollte, dort ein Lifestyle-Magazin, das sich für ihr Beziehungsleben interessierte. Allen wusste sie zu sagen, was sie hören wollten, allen wusste sie zu geben, was sie von ihr haben wollten. Es war perfekt, wäre da nur nicht diese seltsame Leere gewesen, die sich ihr von Zeit zu Zeit aufdrängte, dieser kleine Freiraum in ihr selbst, der anfing, sie zu beobachten, während sie die Anfragen der anderen wie im Schlaf abarbeitete. Es war dieser kleine Bereich ihres Ich gewesen, den sie angefangen hatte zu hassen, weil er ihr innerlich zuschrie, dass etwas falsch laufe, dass das Leben nicht dazu da war, es perfekt durchautomatisiert ablaufen zu lassen. Irgendwann hatte sie angefangen, zurückzuschreien, ihn niederzukämpfen, diesen widerspenstigen Teil in ihr, der ihrem Glück im Wege stand. Und Stück für Stück hatte sie diesen lästigen Teil in ihr vernichtet.
Und nun musste sie staunend feststellen, dass es mit ihr zu Ende gehen würde, und dass es sie nicht weiter kümmerte. Was würde bleiben von einem Leben ohne feste Standpunkte, von der Beliebtheit, die sie sich mit Beliebigkeit erkauft hatte? Schmerzhaft wurde es ihr bewusst: Nichts.
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