#44 Allmächtig

(Letztes Update von Niklas Baumgärtler am 26.5.2021)

So fühlte es sich also an. Er wendete den Kopf nach links und schenkte dem Schlagzeuger ein Lächeln, der mit der Base-Drum durchgegangen war und das Schlagzeug nur dadurch vom Umkippen hatte retten können, indem er mitten im Song aufsprang und das fallende Equipment festhielt. Einige verwirrte Gesichter im Publikum, dann schallendes Gelächter, als der Schlagzeuger einige Schritte nach vorne gegangen war und sich vor dem tobenden Publikum verbeugt hatte. Ein Ausrutscher, nur menschlich. Und doch, auf dieser Bühne, in diesen grellen Lichtern, waren sie fern von menschlich, waren Über-Menschen. Götter. Ein jeder Fehler wurde zur Kunst, sobald man nur auf genügend großen Bühnen spielte.

In einem Anflug von Tollkühnheit schlich er sich von hinten an den sich immer noch frenetisch verbeugenden Schlagzeuger an und gab dem Nichtsahnenden einen Schubs, der ihn ins Publikum stürzen ließ, das ihn johlend auf ihren Händen weitertrug, bis er wieder die Bühne erreichte. „Wo waren wir?“, rief er ins Mikrophon, gefolgt vom klickenden Geräusch des einzählenden Schlagzeugers. Spät wurde ihm bewusst, dass er in all dem Jux den Text vergessen hatte, doch das Publikum schien es nicht weiter zu stören. „Instrumentalversion!“ rief er ins Mikrophon, doch die Fans grölten den Text ohnehin mit, feierten sich selbst. So fühlte es sich also an, auf diesen großen Bühnen zu stehen, angehimmelt, unfehlbar, beinahe gottgleich.

Jahrelang hatten sie auf diesen Moment hingearbeitet, diese paar Minuten an Ruhm, für die sie Jahre geopfert hatten, Jahre in feuchtkalten Kellern, mit viel zu lauten Verstärkern, viel zu verrauchten kleinen Bars und viel zu wenigen Fans, die sich für sie interessierten. „Geht arbeiten!“, hatten die Familien gezetert, im Falle des Schlagzeugers auch seine Frau und seine kleine Tochter. Ex-Frau, erinnerte er sich, denn als der große Durchbruch kam, hatten die Bandmitglieder zwar Geld gehabt, aber noch weniger Zeit als je zuvor. Auftritte waren zu lukrieren, Verträge auszuhandeln und Alben aufzunehmen. Irgendwann war sie einfach weg gewesen, wann, das wusste niemand so genau, weil sie viel zu sehr mit ihrer Tour beschäftigt gewesen waren. Frauen gab es jedoch ohnehin wie Sand am Meer in dieser Welt der gleißenden Lichter, ein endloser Strom an Körpern, die auf dem Heimweg in dunklen Hinterzimmern lauerten.

Und nun wurde ihm bewusst, dass es möglicherweise kein Zurück mehr gab aus all diesem Zirkus, dass alles, was er fortan tun oder unterlassen würde, von Tausenden Menschen weltweit über soziale Netzwerke geteilt und analysiert werden würde, bis sie aus jedem hirnverbrannten Kommentar die mystische Weisheit eines Propheten gemacht hatten. Er deutete der Band, weiterzuspielen, gab der Security einen Wink, sich keine Sorgen zu machen, und holte eine hübsche Frau auf die Bühne, die – von den gleißenden Lichtern und der Welle der Anbetung, die ihr aus dem Publikum als der von der Band erwählten entgegenschwappte – völlig überwältigt in seine Arme sank. Er konnte einfach alles mit diesen Menschen tun. Alles. Vermutlich hätten die Fans selbst eine Vergewaltigung hier auf der Bühne irgendwie als große Kunst interpretiert. Für einen Moment spielte er tatsächlich mit dem Gedanken. Doch wofür? Sie würde sich ihm auch ohne Gewalt hingeben. Später, in den dunklen Hinterzimmern, backstage. Ein weiterer Körper ohne Gesicht, im Nebel der Zeit.

Die Erkenntnis ließ ihm einen kalten Schauer über den Rücken laufen. Es widerte ihn plötzlich an, diese Anbetung, die ihnen zuteilwurde, diese großen Augen, die in allem, was er sagte oder tat, eine Offenbarung vermuteten. All die Frauen in all den Hinterzimmern, all die ermüdenden Touren mit dem Band-Bus. Er fühlte sich nur noch müde, wollte schlafen und nicht mehr aufwachen. Die Frau, die er auf die Bühne geholt hatte, hatte sich etwas erholt und sah ihn erwartungsvoll an. Was wollte er von ihr? Was hatte er von all den anderen Frauen gewollt? Was war all der Ruhm, all die Anbetung am Ende des Tages wert? Er stieß die Frau zurück in die wogenden Massen der anbetungsvollen Gesichter.

„Fühlt ihr euch wirklich so leer, dass ihr in mir euren Gott sehen wollt?“, schrie er ins Mikrophon.
Die Band setzte spontan ein, Feuerzeuge wurden gezuckt, Hände ergriffen, und allgemeines Schunkeln setzte ein. Sie hielten es wohl für den Anfang einer neuen Ballade.
Auch eine Antwort, dachte er fassungslos.

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Portrait Niklas Baumgärtler

Niklas Baumgärtler

Niklas Baumgärtler interessiert sich für die Kunst der Begeisterung und macht gerne Wechsel- und Hebelwirkungen in Sozialen Systemen sicht- und erlebbar. Mehr über Niklas Baumgärtler...

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