# 43 Konzentration

(Letztes Update von Niklas Baumgärtler am 26.5.2021)

Ein Mann in abgeschundener Kleidung erschien und nahm die Neuen in Empfang. Der sechs-zackige Stern über seiner Nummer wies ihn als Jude aus. Sie mussten schrecklich müde sein, geschunden von der tagelangen Zugfahrt. In jedem Zug waren einige von ihnen an den Entbehrungen verendet, und es war ihnen verboten worden, die Toten zu begraben oder sie auch nur aus den Waggons zu entfernen. Erst hier, am „Zugendbahnhof“, wurden die teilweise bereits halb verwesten Leichen von ihren noch halbwegs funktionsfähigen Kollegen in eine große Grube geworfen. Später würden sich die Hunde des Lagers über die essbaren Überreste hermachen. Doch alles, was diese lebenden Toten noch interessierte, war der lachhafte Überrest von nacktem Leben, den sie in Lumpen vor sich hin schleppten.

In den Anfängen hatte es noch die eine oder andere Rebellion gegeben, erst mit Steinen bewaffnete Aufstände, später hatten sie es mit kollektiver Arbeitsverweigerung versucht, hatten geglaubt, die deutsche Kriegsmaschinerie dadurch sabotieren zu können. Nach einigen wahllosen Erschießungen waren die meisten wieder an die Arbeit gegangen. Die einzige Solidarität, die hier in den Lagern länger als einige Tage überlebte, war die Solidarität mit dem eigenen nackten Überleben. Sie verrieten ihre eigene Familie, ihre Freunde, selbst Geliebte – und alles nur für einen weiteren Morgen ihrer lächerlichen Existenz. Der Führer hatte dem Volk so manche prophetische Weissagung versprochen, etwa dass die Juden einen neuen von ihnen angezettelten Weltkrieg nicht überstehen würden – doch nirgends war die Wahrheit seiner Aussagen so deutlich sichtbar wie in den Lagern. Sie waren am Sterben. Die ganze verdammte jüdische Volksmasse lag im Sterben.

Einmal hatte es einen größeren Zwischenfall moralischen Aufruhrs gewesen, ein kurzes Aufglimmen von Hoffnung unter den Insassen. Sie hatten die Arbeit niedergelegt und sich eingeredet, dadurch dem deutschen Volk einen entscheidenden Schlag versetzen zu können, ihm die Munition vorenthalten zu können, die es für den Endsieg brauchen würde. Erschießungen einzelner hatten nichts geholfen, wurden auf seinen Befehl abgebrochen. Ihre Hoffnung wuchs, ihre Moral stieg. Einige Tage lang glaubten sie tatsächlich, sie würden in den Lagern etwas erreichen können. Erst dann – was tat man als Theater-Liebhaber nicht alles für den richtigen Effekt – hatte er ihnen erklärt, dass ihr Verhalten völlig irrelevant war. Das war doch gerade die Schönheit an der Institution des Lagers: Die Menschen hier existierten für die Welt da draußen nicht mehr. Keine Namen. Keine Geschichten. Nur Nummern, nur die Anzahl der Toten, blieben am Ende übrig. Es war eine riesige Maschine, und Alfred wie alle anderen nur ein kleines Rädchen, das sie mit Freude am Laufen hielt.

Alles hier hatte seinen Zweck. Die moralisch verendeten Kapos, die den Neuankömmlingen den Weg wiesen und ihnen ein leuchtendes Vorbild moralischer Verkommenheit boten, an dem sie sich – wollten sie überleben – orientieren konnten. Die „Duschen“, diese geniale und effiziente Erfindung, große Massen an Menschen zu Frischfleisch zu verwandeln, ohne dass sich der einfache und moralisch noch nicht genügend abgehärtete Soldat allzu viele unnötige Fragen stellen musste. Schließlich das Krematorium, das die Überreste platzsparend zusammenschrumpfte. Die großen Lagerfeuer der ersten Jahre hatten zwar eine schöne demoralisierende Wirkung erzielt, aber der Gestank nach verbranntem Fleisch war auf Dauer eine Beleidung des guten deutschen Geschmackes.

„Konzentrations-Lager“ hatte man sie getauft, jene Institutionen, in denen ein jeder seine Aufgabe, und nur seine Aufgabe finden konnte. Manch einer war dafür verantwortlich, Menschen aus einem Zug von A nach B zu bringen, wieder jemand dafür, einen Knopf in einem abgeschotteten Raum zu drücken, ein anderer, Goldzähne aus Leichen zu schlagen, bevor sie verbrannt wurden und wieder ein anderer für die Sicherheit, falls es bewaffnete Aufstände geben sollte. Manche kümmerten sich auch nur darum, dass niemand erst auf die Idee kam, indem sie den Insassen immer wieder klar machten, dass sie eigentlich schon tot waren – auch eine interessante Aufgabe, für die ein gehöriges Maß an Kreativität maßgeblich war, wollte man diese ohnehin abgestumpften Gestalten tatsächlich noch beeindrucken. Konzentriert ging er nun seiner eigenen Aufgabe nach, einen Knopf zu drücken. Keine Schreie drangen zu ihm hindurch, nichts. Er summte eine fröhliche Melodie aus seiner Kindheit, und fragte sich, was es wohl abends zu essen geben würde.

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Portrait Niklas Baumgärtler

Niklas Baumgärtler

Niklas Baumgärtler interessiert sich für die Kunst der Begeisterung und macht gerne Wechsel- und Hebelwirkungen in Sozialen Systemen sicht- und erlebbar. Mehr über Niklas Baumgärtler...

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