„Möge es dich begleiten“, hatte der Freund gemeint, und ihm das Amulett in die Hand gedrückt, „ich habe es dir aus Nepal mitgebracht“. Es war nicht irgendein Mann gewesen, sondern derjenige, dessen Geschichten ihn stets beeindruckt hatten. Geschichten von fernen Ländern, von sozialen Projekten. Es war der Mann gewesen, der „Ingenieure ohne Grenzen“ ins Leben rufen wollte, eine Schwesterorganisation der bekannten Ärzte ohne Grenzen, die freiwillige Ingenieure der ganzen Nation um sich versammelte, um in ärmeren Ländern für eine flächendeckende Versorgung mit Wasser, Strom und weiterer Infrastruktur zu sorgen. Alle paar Monate jedoch würde er zurückkehren, zu jenem Ort, an dem sich ihre Wege immer wieder aufs Neue zu kreuzen pflegten. Nun würde er wieder für einige Monate abreisen, und den Jüngeren träumend zurücklassen, träumend, selbst ebenso eines Tages die Welt zu verändern.
Jeden Morgen, wenn er aufwachte, würde er es nun um seinen Hals fühlen, das Amulett des Älteren, und von einer Zukunft träumen, in der er selbst einer jener Männer sein würde. Sein Geist begleitete ihn durch den Tag, leitete ihn durch schwierige Entscheidungen, war da für ihn wie ein gütiger Vater. Lange hörte er nichts von dem Anderen, und doch fühlte er sich nicht allein gelassen, fühlte sich beschützt, begünstigt, beinahe auserwählt. Hatte nicht er jenes Amulett erhalten, war es nicht seine Bestimmung, dem Älteren nachzufolgen, Großes zu leisten?
Und so hatte er dann auch seine Ängste überwunden, war in die Ferne gereist, um das Leid mit eigenen Augen zu sehen, von dem der Freund so oft gesprochen hatte. Es war nicht genug, sich über etwas zu beschweren. Nein, er würde handeln, würde helfen, würde heilen und gesund machen. Also bereiste er ferne Länder, gab den Armen und suchte ihre Nähe, suchte, einer von ihnen zu werden, auf dass er sie aufrichten, dass er ihnen Hoffnung schenken konnte. Das Amulett war immer bei ihm, schenkte ihm Kraft, wo der Wille schwach zu werden drohte. Was war sein Leid gegen das Leiden der mittellosen Massen, was war seine selbstgewählte Marter gegen die Machtlosigkeit der Trostlosen? Er war so schwach, so lächerlich schwach angesichts des Leids, das ihm entgegenschwappte! Sein Wille musste eisern sein, durfte die Hoffnung nicht aufgeben, musste den Massen ein Leuchtfeuer der Hoffnung im Dunkel ihrer Armut sein. Und so lernte er mit der Zeit, das Leiden auszuhalten, ihm zu widerstehen und den Massen zu helfen, sich und ihnen geistige Freiräume in ihrer Not zu schaffen, von denen aus sie ihr Schicksal in die Hand nehmen konnten. In einem umgebauten Bus fuhr er in die Favelas, um den Armen Träume zu schenken.
Als er Jahre später wieder zu jenem Ort, an dem er einst das Amulett erhalten hatte, zurückkehrte, wirkte er gezeichnet von seinen Erfahrungen in der Fremde, doch die Jahre hatten ihm auch tiefe Lachgrübchen geschenkt, und sein Schritt, nun etwas gefestigter, war von kraftvoller Federung. Kaum jemand erkannte in ihm noch den Jüngling von einst mit der unsicheren Stimme und den verträumten Augen. Das Lederband, mit dem er das Amulett einst um seinen Hals befestigt hatte, war gerissen, das Amulett verloren, doch der Geist des Idols noch lebendig wie am ersten Tag.
Und so war es für ihn ein Schock, den Anderen so an jenem Ort wiederzutreffen, an dem er vor so vielen Jahren einst das Amulett erhalten, das ihn auf seinen Weg gebracht hatte. Der alte Freund, der ihm den Weg gewiesen, wirkte verstört, sein Blick war gehetzt und der untere Teil seines Gesichtes auf seltsame Art und Weise nach vorne verschoben. Er hatte genügend Zeit in den Untiefen der Favelas verbracht, um zu wissen, was geschehen war. Irgendwann auf seiner Reise musste der Ältere den gefährlichen Lockungen erlegen sein, die ihm von Entspannung und Frieden flüsterten. Opium vielleicht. Oder Heroin. Seine Hand umklammerte das kleine Halsband in der Tasche, das er von dem Artensano in Bolivien für den Freund erstanden hatte und dass er dem großen Vorbild als Zeichen seiner Dankbarkeit schenken hatte wollen.
Als er es dem Alten umlegte, klärten sich die Wolken in seinen Augen für kurze Zeit. Ein Lächeln zog sich über sein Gesicht, als er die Lachgrübchen des Jüngeren ausmachte.
„Danke, dass du mich wieder zu lachen gelehrt hast“, sagte der Ältere.
„Danke, dass du mich einst zu leiden gelehrt hast“, erwiderte der Jüngere.
Und zusammen staunten sie über die unergründlichen Kreisläufe des Lebens, die sie beide, das Leiden und das Lachen, immer wieder zusammenzuführen pflegte.
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