#38 Anderswelt

(Letztes Update von Niklas Baumgärtler am 26.5.2021)

Heute Morgen um etwa 9:30 musste sie zurückgekehrt sein. Die zwei Anrufe ihrer Freundin, die sie trotz des lauten Klingeltones überhört hatte, schienen einige Minuten vorher auf, doch sie hatte sie nicht wahrgenommen. In der Anderswelt verloren solch alltägliche Dinge wie ein klingelndes Telefon oft ihre Bedeutung. An jenem glücklichen Ort verstummten alle Anforderungen, verglomm all der Hass. Es war eine Welt des Friedens, eine Welt, in der –
Das Handy klingelte erneut, doch dieses Mal war es nicht ihre Freundin. Das musste Paula sein, die Leiterin der Backstube. Was würde sie wieder nerven, diese Tyrannin! „Hallo?“, säuselte sie ins Telefon, um die Leiterin nicht unnötig weiter zu verärgern. „Mir reicht es, Maria!“, fauchte es ihr entgegen. Das war unhöflich. Gerade kam sie aus der Anderswelt zurück, sie war entsprechend müde, da musste ihre Leiterin doch verstehen, dass sie –
„Du bist gefeuert!“, schimpfte Paula, und dann hörte sie nur noch einen langgezogenen Ton, der ihr nach einigen fassungslosen Sekunden bereits in den Ohren weh tat.

Maria blickte sich – leicht überfordert mit der Situation – in der Wohnung um. Na, dann habe ich wohl endlich die Zeit, hier einmal aufzuräumen, dachte sie bei sich, und setzte sich auf das Sofa vor dem kleinen Tischchen, auf dem sie ihre letzte Reise in die Anderswelt begonnen hatte. Ihre letzte Fahrkarte in die Anderswelt war noch dort verstreut. Gut. Das schenkte fürs Erste Sicherheit. Was waren nun die nächsten Schritte? Sie würde einen neuen Job brauchen. Diese Fahrkarten waren selbst beim Dealer ihres Vertrauens teuer. Sie beschloss, ihre Freundin zurückzurufen. Vielleicht hatte die ja einen Job für sie.
„Schon wieder?“, hörte sie ihre Freundin erstaunt ausrufen.
„Ja, aber die Leiterin war ohnehin eine blöde Kuh.“, meinte Maria achselzuckend.
„Ok, ich werde sehen, was sich machen lässt.“

Nun ging sie ins Badezimmer. Gut, dass sie heute nicht arbeiten musste. Das Haar fiel ihr in wüsten Strähnen ins Gesicht. Sie war verschwitzt von der Reise. Vermutlich war es gut, dass ihre Nase derart geschwollen war, dass sie kaum mehr etwas riechen konnte. Doch als sie in die Dusche trat, kam kein Wasser. Was für ein Tag! Sie würde sich bei der Vermieterin beschweren. Doch in diesem Zustand? In der Küche befand sich noch ein Glas Wasser für alle Fälle, mit dem reinigte sie sich notdürftig, bevor sie an die Tür der Vermieterin klopfte. Mit gemächlichen Schritt schlurfte diese zur Tür und öffnete.
„Ich habe kein Wasser!“, fuhr Maria sie an.
„Sie haben Wasser, wenn Sie die Miete bezahlen, Maria.“, gab die Vermieterin ungerührt zurück. „Was zur Hölle haben Sie überhaupt gestern Nacht wieder angestellt? All dieser verdammte Lärm –
Herrgott noch mal, Maria! Haben Sie denn jetzt völlig den Verstand verloren?“
Nur unfreundliche Menschen überall. Welch verdammte Welt! Da wollte man sich nur über das Fehlen von Wasser beschweren und wurde sogleich aufs Übelste beschimpft.
„Sie gehören ja in eine Anstalt! Oder ins Gefängnis! Aber sicher nicht in meine Wohnung! Packen Sie ihre Sachen und verschwinden Sie! Ich gebe Ihnen eine halbe Stunde, dann rufe ich die Polizei. Und nun machen Sie, dass Sie davonkommen!“
Die zufallende Tür erwischte ihre ohnehin schon schmerzende Nase schmerzlich. Na dann, dachte sie bei sich, damit hat sich meine Frage wohl erledigt, was die Menschen dazu bewegt, in dieser Welt leben zu wollen. Sie sind einfach alle zu blöde. Ich gehe zurück in die Anderswelt. Da ist man zumindest noch freundlich zueinander.

Die Polizei ließ sich Zeit, aufzutauchen, denn sie hatten genug Erfahrung mit Süchtigen, um zu wissen, dass Eile im Regelfall nicht nötig war. Sie fanden die Frau, die unter anderen Umständen durchaus attraktiv gewesen wäre, nackt in der Badewanne ihrer Wohnung liegen. Ein wenig Sabber, der ihr aus den Mundwinkeln über die Schultern floss, half nicht, den bestialischen Gestank zu vertreiben, der von ihr ausging. Sie musste sich wohl einige Tage nicht gewaschen haben. Nichts davon schien sie jedoch wahrzunehmen. Sie hatte sich wohl endgültig weggeschossen, dachten die Polizisten. Wie alt sie wohl gewesen war? Was diese Frau in ihren besten Jahren der Welt wohl noch hätte geben können? „Warum?“, entglitt es einem der Polizisten.
Doch aus der Anderswelt dringen keine Antworten in die unsere.

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Portrait Niklas Baumgärtler

Niklas Baumgärtler

Niklas Baumgärtler interessiert sich für die Kunst der Begeisterung und macht gerne Wechsel- und Hebelwirkungen in Sozialen Systemen sicht- und erlebbar. Mehr über Niklas Baumgärtler...

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