Da stand er nun auf dem Gipfel. Ein wenig außer Atem, ein wenig ermüdet vom Aufstieg – aber die Aussicht war die Anstrengung bei weitem wert gewesen. Unter dem kaum mehr bewachsenen Felsen, in dem das Gipfelkreuz gerammt worden war, breitete sich ihm ein idyllisches Bild aus. Unter zarten Nebelfetzen konnte er im Tal die Stadt ausmachen, in der er seit einigen Jahren lebte und arbeitete. Wie klein und unbedeutend sie von hier aus schien! Die stinkenden Autokolonnen, das hektische Treiben, all das, was ihn ansonsten jeden Tag aufs Neue nervte, wirkte von hier aus seltsam weit weg und gewann eine ganz eigentümliche Schönheit. Das Bild eines Ameisenhaufens drängte sich ihm auf: er hatte keine Liebe für einzelne Ameisen selbst, fand sie gar hässlich, doch der Grad ihrer Organisation hatte ihn immer schon fasziniert. Und nun hatte er, eine der Ameisen da unten, diesen Berg erklommen, und sah klarer, sah den faszinierenden Grad der Organisation, der sich hinter all den Autokolonnen und hetzenden Menschen verbarg.
Er setzte sich auf einen der Felsen, und begann, seine Jause auszupacken, während er über seine Eindrücke nachsann. Wie lächerlich klein die Welt doch war, wenn man sie aus der Ferne betrachtete! Wie unbedeutend schien doch das winzige, blinkende Blaulicht des Rettungswagens, der gerade über eine Kreuzung raste! Wäre er nun an jener Kreuzung gestanden, er hätte für den Gefährdeten gehofft, hätte gebetet, es würde keinen der Seinen treffen, doch nun ließ ihn all das seltsam kalt. Aus der Ferne betrachtet schienen all diese Leben unter ihm so völlig irrelevant zu werden. Als würde er eine einzelne Ameise zertreten – was machte sie schon für einen Unterschied?
Gott musste es ähnlich ergehen, dachte er überrascht. Wir sind für ihn ja doch nur stumpfsinnige Ameisen, die tagein, tagaus auf unseren Ameisenstraßen herummarschieren. Warum sollte Gott die Gefühle eines kleinen Menschen wichtiger nehmen als er die Gefühle einer Ameise, die er zertrat? Warum sollte er sich dafür interessieren, dass er diese oder jene Frau liebte, dieses oder jenes Ziel erreichen wollte? Von seinem Himmel aus mussten all seine Probleme, ja alle menschlichen Probleme, lächerlich erscheinen. Kaum der Rede wert, und noch weniger der Tat. Sich nicht mit all den alltäglichen Problemen beschäftigen zu müssen, das wäre schon etwas, dachte er bei sich.
Und während er noch darüber nachsann, wie sich Gott wohl fühlen würde, kam ihm in den Sinn, dass ihn nichts davon abhielt, seine Probleme ebenso hinter sich zu lassen. All das, was ihm das Leben schwer machte, würde ihn nicht mehr kümmern, würde ihn unberührt lassen. Und für einen Moment fühlte er sich tatsächlich völlig frei, genoss den Wind, der ihm über das Haar strich und wähnte sich übermächtig, beinahe göttlich. Nichts konnte ihn berühren, weder das Blaulicht unten im Tal noch eine nicht erwiderte Liebe. Zum ersten Mal in seinem Leben ahnte er etwas von dem tatsächlichen Ausmaß seiner Macht.
Lange noch verweilte er auf dem Felsen, bis die Sonne langsam zu sinken begann und die Realität ihn einholte. Hoffentlich war niemandem etwas passiert, der Rettungswagen schnell genug gewesen! Vielleicht hatte ihn die Frau, die er heimlich liebte, ja in der Zwischenzeit angerufen? All diese irrelevanten Gesten, Befürchtungen und Hoffnungen, von aus der Distanz betrachtet irrelevanten Menschen, die einen Gott wohl nicht zu kümmern brauchten, ließen ihn dann doch lächeln. Es war wohl schmerzlos, das Geschehen in der Welt aus einiger Entfernung, gleichgültig zu betrachten, aber auch eine sehr leere Existenz. Und mit neuem Mut stürzte er sich hinab vom Gipfel der Gleichgültigkeit ins Tal der Erfahrung. Bereit, einen weiteren Tag in seiner ganzen Fülle auszukosten.
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