Es war ein lauer Samstagabend, als er den großen Marktplatz überquerte, und innehielt, weil er in einiger Entfernung ihm unverständliche Stimmen hörte, die offensichtlich in fremder Sprache redeten. Weil er noch eine Weile Zeit hatte, bis die Geschäfte schließen würden, folgte er den Stimmen und gelangte schließlich ins Zentrum, wo sich einige Hundert Menschen versammelt hatten und geschlossen auf dem Boden saßen. Einige von ihnen hatten Fahnen eines ihm unbekannten Mannes dabei, viele von ihnen riefen eifrig Parolen mit, die ihnen ein Mann mit Mikrophon in einer ihm fremden Sprache vorsprach.
„Anfangs sind es nur einige Verrückte gewesen“, sprach ihn ein Passant von der Seite an, „doch mittlerweile sind es schon Hunderte!“, um dann wieder in der Menschenmenge zu verschwinden, die die Demonstranten eher ratlos beobachtete. Was wollten diese Menschen hier? Wer war der Mann auf der Flagge? Warum sprachen sie nicht Deutsch? Mitten im Zentrum einer deutschen Kleinstadt mussten sie damit rechnen, dass ihre fremde Sprache nicht von vielen Menschen verstanden werden würde.
Irgendwann wurde es dem Besitzer eines Restaurants, dessen Gäste die Demonstranten ebenso verwundert beobachteten, zu viel, und er schimpfte lautstark über „dieses Dschihadistenpack, das die Freizeit hat, hier zu demonstrieren, während der einfache deutsche Arbeiter kaum mehr ausreichend Geld hat, um über die Runden zu kommen, weil wir diese Wahnsinnigen alle mitfüttern müssen“. Die mit ihrem dämlichen Koran junge Leute für ihren blöden Gott in irgendeinen heiligen Krieg schickten! Und dann nicht einmal Deutsch reden konnten! Die Zeit für ihre Demonstrationen hatten sie also, aber zum Deutsch lernen natürlich wieder nicht!
Der Restaurantbesitzer hätte sich vermutlich noch eine ganze Weile weiter aufregen können, wäre ihm nicht einer der Demonstranten freundlich entgegengetreten und ihn auf Deutsch angesprochen: „Wir machen diese Demonstration auf Deutsch, Englisch und Kurdisch, damit möglichst viele Menschen uns auch verstehen können. Der kurdische Teil ist nun beinahe beendet, womit wieder Deutsch an die Reihe kommt. Wir demonstrieren gegen die hasserfüllte und in unseren Augen falsche Auslegung des Koran durch die IS.“
Der Restaurantbesitzer, der spürte, dass er nun im Rampenlicht stand und als Gegenüber jemanden hatte, der nicht nur sehr gut Deutsch konnte, sondern ihm auch an innerer Ruhe weit überlegen war, wurde ein wenig nervös. Vielleicht hörte er auch deswegen die Worte der Demonstranten – nun in klar verständlichem Deutsch – nicht, die da von Frieden, Freiheit und Toleranz für alle Völker, alle Religionen und alle Menschen sprachen. Die den heiligen Krieg als fatale Fehlinterpretation des Islam verurteilten, und ihren Teil beitragen wollten, dass die Menschen nicht wieder den gleichen Fehler machten, den sie in unregelmäßigen Abständen dann doch immer wieder erlagen: Menschen einer bestimmten Gruppe als gleich zu betrachten und auch zu behandeln.
Es macht für uns keinen Unterschied, ob du uns als Dschihadisten, als Muslime, als Andersrassige, als Andersklassige sonst einer Variation der Kaste der Unberührbaren oder Ungläubigen ansehen möchtest. Wir sind Muslime, weil wir über diesen Sichtweisen stehen möchten, weil wir dazu beitragen möchten, dass ein Mann als der Mann betrachtet wird, der er ist, und eine Frau ebenso. Im Koran wie in eurer Bibel finden wir genügend Geschichten von Hass und seinen Folgen, um uns zu lehren, andere Wege zu suchen. Vielleicht müssen wir auch nur gemeinsam gegen den Unglauben ankämpfen, den Unglauben, dass der andere kein einzigartiger Mensch ist, den wir erst kennenlernen müssen, bevor wir uns entscheiden können, ob wir ihn lieben oder hassen wollen?
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