Ängstlich lugte er über den Rand seiner Zeitung, um zu sehen, ob das Wunder tatsächlich eintreten würde. Zehntausende hatten würden dem Aufruf zur Versammlung folgen, wenn man den sozialen Netzwerken Glauben schenken durfte – noch war es jedoch ruhig in der XV de Novembro. Die Zeiger seiner Armbanduhr näherten sich unerbittlich 18:00, dem vereinbarten Treffpunkt. Würden sie kommen? Oder lauerten Polizeibeamte in Zivil unter all den Passanten, die sich durch die breite Einkaufsstraße Curitibas drängten? Verließen sich der Überwachungsstaat Brasilien darauf, dass das Verbot sozialer Netzwerke für Jugendliche und die Gefahr, von der Bildfläche zu verschwinden, die Menschen genügend eingeschüchtert hatten – oder hatten sie trotz aller Verbote auch die Tiefen des Internet infiltriert, um jede Protestbewegung schon im Keim zu ersticken?
Das Hupen eines Autos riss ihn aus seinen Überlegungen. Doch es war nur eine Gruppe von Menschen, die so in ihre Diskussion vertieft waren, dass sie (wieder einmal) den Verkehr behinderten, ein Phänomen, das hier in Curitiba nicht unüblich war. Es war 18:24, und es versprach, ein Abend wie jeder andere zu werden. Nicht ohne eine gewisse Erleichterung, die aus der Gewissheit erwuchs, sich nicht in Gefahr begeben zu müssen, versenkte er sich wieder in die Lektüre seiner Zeitung. Doch als er den Blick wieder erhob, traute er seinen Augen kaum. Der Verkehr war völlig erlahmt, weil eine riesige, weiter wachsende Menge an Menschen die Straße blockierte. Um sich nicht in Gefahr zu begeben, mussten viele wie er selbst unauffällig abgewartet haben, ob die Versammlung zustande kommen würde. Und als einige wenige Mutige mit ihrer Straßenblockade dann den Anfang machten, hatte sich schnell eine schützende Masse gebildet.
Als die Menge anwuchs, begannen auch die ersten Transparente aufzutauchen, die stolz geschwenkt wurden. Es wurde angeregt diskutiert, und eine gewisse Erleichterung machte sich breit, als klar wurde, dass diese Diskussion aufgrund der schieren Masse der Menschen wohl dieses Mal nicht so einfach von der Polizei aufgelöst werden würde. Der Zug setzte sich in Bewegung, begann zu singen, begann zu tanzen, begann sich selbst zu feiern. Es war ein Triumphzug der Freude, der freien Meinungsäußerung. Busfahrern, die aufgrund der Menschenmassen im Stau steckten, wurden Blumen geschenkt, die Insassen aufgefordert, doch mitzuziehen. Und so waren bald Tausende auf den Straßen, mit einem Gefühl ungeahnter Macht, ungeahnter Freiheit. Nach all den Jahren der Unterdrückung, der Verschleppung politisch Unangepasster.
Und so zogen sie in der Stadt umher, stets verfolgt von Helikoptern der Polizei und der Medien, ihre so lange unterdrückte Freiheit zelebrierend, bis sie das Rathaus der Stadt erreichten, wo einige selbsternannte Führer ihre Parolen schmetterten, die kaum mehr jemanden interessierten. Schnell waren sie ihnen langweilig geworden, die Erben der Diktatur, die die Massen „zum Wohl der Proletarier“ und doch am Ende nur zu ihrem eigenen Wohl instrumentalisieren wollten. Und so zogen sie nun weiter zum Sitz der Landesregierung, um selbst dort, am Vorhof der Macht, ihre Meinungsfreiheit zu zelebrieren. Bis eine Explosion die Nacht erschütterte und die Hölle losbrach.
Es war im Nachhinein schwer festzustellen, ob es sich um Demonstranten oder eingeschleuste Provokateure der Polizei gehandelt hatte, die das Chaos verursacht hatten. Doch als die Bomben, Molotov Cocktails und Steine flogen und das Tränengas und die Gummigeschosse der Polizei nicht lange auf sich warten ließen, brach Panik aus. Demonstranten gingen mit zerbrochenen Glasflaschen aufeinander los, weil sie Provokateure der Polizei vermuteten, die die Revolution gefährdeten. Und plötzlich entstand eine völlig unüberschaubare Situation, in der ein jeder ein Agent der Regierung, chaotischer Anarchist, friedlicher Demonstrant oder auch nur unbeteiligter Beobachter sein konnte.
Innerhalb von Minuten bröckelte die Fassade der Zivilisation. Eine Frau, die nicht damit einverstanden war, dass eine Flagge des Landes, das sie trotz aller Kritik liebte, verbrannt werden sollte, wurde beinahe von wütenden Demonstranten abgestochen. Einige nutzten das allgemeine Chaos aus, um Banken zu plündern und sich zu bereichern. Überforderte Polizeibeamte verletzten Demonstranten und unbeteiligte Passanten. Der Traum von der friedlichen Kundgebung, die alles ändern würde, begann zu bröckeln. „Was tun?“, hatte Lenin einst gefragt. Eine transformierende Antwort war die Menschheit auch nach dieser denkwürdigen Nacht weiter schuldig geblieben.
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