Es war exakt 7:38, als er sich zum ersten Mal an diesem Mittwoch ärgerte. Darüber, dass er 22 Minuten vor der regulären Öffnungszeit des Supermarktes gekommen und nun zum Warten verdammt war. Demonstrativ stellte er sich vor die Eingangstür. Vielleicht würden die Mitarbeiter ja schon früher kommen und für einen armen alten Mann auch früher aufsperren? Doch ein Blick durch die Glasscheibe überzeugte ihn davon, dass tatsächlich noch niemand eingetroffen war. Mit der Zeit versammelte sich vor dem Supermarkt ein ganzer Haufen an übermotivierten Einkäufern, um in regelmäßigen Abständen ihre Nasen an den Glasscheiben plattzudrücken, während sie hineinspähten.
Bei den Einkaufswägen hatte sich in der Zwischenzeit ein älterer schwarzer Herr platziert und einige seiner Kupfermucken aus seiner Tasche geholt. Ein unbeteiligter Beobachter würde möglicherweise annehmen, dass sein Angebot der Straßenzeitung Obdachloser in einer solchen Wartesituation wohl regen Zulauf finden würde, doch nahmen ihn die Einkaufswütigen kaum wahr. Sein freundliches „Grüß Gott!“ verhallte ungehört, kaum wurde zurückgegrüßt. Denn jede Minute konnte nun der Supermarkt aufsperren – keine Zeit zu verlieren.
Nun waren bereits die ersten menschlichen Gestalten innerhalb des Supermarktes gesichtet worden, die noch letzte Vorbereitungen vor der Öffnung der Eingangstür durchführten. Natürlich war dies wiederum ein Grund für die Wartenden, sich fürchterlich aufzuregen. War es denn zu viel verlangt, dass die Mitarbeiter, die ohnehin schon anwesend waren, die paar Minuten früher aufsperrten? Die Regale konnten sie immer noch auffüllen, wenn die ersten gestressten Kunden schon durch die Gänge wuselten.
Um Punkt 8 Uhr, als die Eingangstür für die wartenden Massen freigegeben wurde, drängten sich 14 Menschen in den Supermarkt, was beinahe in einer Massenkarambolage endete, weil die Tür eben nicht für eine parallele Durchwanderung gleich zweier Einkaufswagen ausgelegt war. Knapp 10 Minuten später war der erste Spuk bereits wieder vorbei, die Kofferräume und Räder überfüllt mit den Waren des täglichen Gebrauchs.
Ein älterer Mann, den der Kupfermucken-Verkäufer bereits um 20 vor 8 eintrudeln hatte sehen, hastete mit seinem Fahrrad in Richtung Straßenverkehr, während er noch mit jemanden telefonierte und aufgrund des zusätzlichen Gewichts seines Einkaufes dabei beinahe vom Rad kippte. Die Gesprächsfetzen, die der Verkäufer hörte, sagten ihm aufgrund seiner noch kaum vorhandenen Deutsch-Kenntnisse nur wenig. Doch er hatte bereits genug grantelnde Österreicher gesehen, um zu wissen, dass sich derselbe Mann, der sich erst knappe 20 Minuten lang darüber aufgeregt hatte, vor dem Supermarkt warten zu müssen, wohl nun darüber aufregte, dass er nie die Zeit fände, sich einmal zu entspannen. Und abends, während er den Mitarbeitern des Supermarkts zusah, wie sie – wie jeden Tag – die Nasenabdrücke vom Morgen von den Scheiben putzten, fragte er sich, ob die Menschheit wohl tatsächlich lernfähig war.
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