„YOLO – you live only once“, du lebst nur einmal, war als erklärender Kommentar unter dem Foto zu lesen, das sein letztes sein würde. Gepostet von seinem Smartphone, zu finden auf seiner Facebook-Pinwand. Dem Foto, das ihn stolz auf dem Dach des Führerabteils des ICE 471 posierend zeigte. Für einige Sekunden hatte er sich wie der König der Welt gefühlt – doch wie so oft im Leben war dem Hochmut der tiefe Fall gefolgt. Ein Fall, der ihn, als der Zug überraschenderweise tatsächlich pünktlich um 19:32 losfuhr, buchstäblich unter die Räder des Zuges kommen ließ.
Für einige Sekunden weigerte sich ihr überfordertes Gehirn schlichtweg, die rötliche Masse, die der Zug hinterlassen hatte, als ihren alten Freund wiederzuerkennen. Als jedoch um sie immer mehr Menschen in panikartige Zustände ausbrachen, sank sie auf die Knie, während sich das eben Geschehene vor ihrem geistigen Auge erneut abspielte. Unerbittlich langsam, so langsam und deutlich, dass es sogar durch ihren Schockzustand brach. Nachdem ihr der Gedanke gekommen war, dass es wohl eine ihrer zukünftigen Aufgaben sein würde, den Unfallhergang der Polizei zu schildern, verließ sie fluchtartig den Bahnhof. Sie brauchte jetzt Zeit. Zeit, um all das zu verarbeiten.
Du lebst nur einmal, das war ihr Spruch gewesen, um diese und ähnliche Aktionen einzuleiten. Es war eine harmlos wirkende Möglichkeit gewesen, ihre eigenen Ängste zu überwinden, und sie waren sich ziemlich erwachsen und großartig vorgekommen darin. Immerhin hatten sie im Gegensatz zu ihren Altersgenossen bereits über den Tod und die Konsequenzen für ihr Leben nachgedacht. Und war es nicht logisch, dass man, wenn man davon ausging, nur ein Leben zu haben, dieses Leben auch nutzen musste, um all das zu erleben, was es zu erleben gab, all das zu genießen, was es zu genießen gab? Wenn man nur einmal lebte, war es nicht völlig egal, was die anderen von einem dachten? War nicht alles, was zählte, das eigene Leben auszukosten, ohne Rücksicht auf Verluste?
Doch nun, während sie ziellos durch die Straßen der Stadt lief und ihr das Bild des Fleischklumpens, der einst ihr Freund gewesen war, nicht mehr aus dem Kopf ging, kamen ihr unangenehme Gedanken. Wie würden sich seine Mitmenschen an ihn erinnern? Was würde bleiben von den 15 Jahren seines Lebens, von denen ihr Freund die letzten zwei angeblich „voll ausgelebt“ hatte?
Und dann kam ihr zu Bewusstsein, dass das Leben ihres Freundes nun abgeschlossen war wie ein Buch, dessen letzte Seite geschrieben worden war. Es war sozusagen „in Druck gegangen“, ohne das sein Autor noch etwas daran zu ändern vermochte. Und sie erkannte mit ihren 16 Jahren zum ersten Mal den Hintersinn der Wörter Paradies und Hölle der heiligen Bücher. War es nicht die Erinnerung der Menschen, in der die Toten weiterlebten? Und die Ewigkeit des Paradieses und der Hölle wohl die Problematik, nichts mehr an diesen Erinnerungen verändern zu können?
Und noch in ihrem Schockzustand fasste sie einen Entschluss, der ihr Leben verändern sollte. Wenn es stimmte, dass ein Mensch tatsächlich nur einmal lebte, so wollte sie ihr Leben anderen Menschen und ihrem Wohlergehen widmen. Und wenn sie dann sterben sollte, würde sie ihr Paradies in den Erinnerungen der Menschen finden, die sie mit ihrem Wirken berührt hatte. Und ihrem Freund, dem sie nun nicht mehr persönlich für diese wertvolle Lektion danken konnte, beschloss sie in Ehren zu gedenken. Er hatte ihr durch sein unfreiwilliges Opfer einen Schlüssel zum Paradies geschenkt. Nun schenkte sie ihm ein gedankliches Lächeln, in der Hoffnung, dass es seine Seele, was auch immer das war, irgendwie erreichte. Mochte er dadurch Frieden finden.
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