Wie kaum etwas im Leben war auch diese Entwicklung nicht wirklich plötzlich verlaufen, hatte ihn nicht ohne Vorwarnung überrascht. Da war dieses ominöse Virus aufgekommen, wie aus dem Nichts, das eine ganze Welt mehr und mehr in ungläubige Panik zu versetzen mochte. Wo bis vor kurzem noch Aufbruchsstimmung geherrscht hatte, gar die Idee einer geeinten Welt, wurden nun zunehmend Grenzzäune errichtet, rote Linien gezogen und Angst gesät.
Mit der Angst kamen der Zweifel, die Depression, die Hoffnungslosigkeit, die auch der Wirtschaft die letzten, entscheidenden Schläge versetzten.
Wie die meisten Menschen hatte auch er sich im Generellen lange eher taub gegenüber jenen Vorboten des Schicksals gezeigt. Und nun stand er blinzelnd im Rampenlicht der Aufmerksamkeit.
Nun, es handelte sich, wenn man es genau nahm, nicht wirklich um eine persönlich gemeinte Aufmerksamkeit. Niemand schrie seinen Namen, verlangte ganz konkret nach seiner Person. Aber es lag etwas in der Luft, fast wie eine Art von unerträglichem Vakuum, das danach drängte, von etwas oder jemandem erfüllt zu werden.
Es war guter Nährboden. Er würde reiche Ernte bringen.
Er tat den ersten Schritt in den leeren Raum, und konnte fühlen, wie sich mehr und mehr Augenpaare auf ihn richteten. Erwartungsvoll.
Anfangs war seine Stimme noch ein wenig eingerostet, aber schon bald konnte er sie wieder fühlen – die Klaviatur der Emotionen, die es zu bespielen galt, wollte man die Wogen der Menge reiten, sie führen, wie er es vermochte.
Er nahm das Mikrophon, das wohl jemand, der ausgezogen war, um die Welt durch Einbeziehung aller zu einer besseren, gerechteren zu machen, ihm voller naiver Hoffnung reichte, und lächelte.
„Mein Name? Ach, meine Freunde, der tut hier doch nichts zur Sache.“
Unaufgeregte Uneigennützigkeit demonstrieren. Die Menge wurde still.
„Ich bin nur ein einfacher Mann, wie ihr.“
Ich bin ein Teil von euch. Ihr seid ein Teil von mir. Es funktionierte einfach jedes Mal aufs Neue.
„Aber selbst als einfacher Mann stelle ich mir so manche Fragen!“
Beim Wort „Fragen“ war er etwas lauter geworden. Nun hingen sie ihm an den Lippen.
Dies war der kniffligste Punkt an der ganzen Sache. Es galt nun, eine Frage zu formulieren, bei der sich ein jeder selbst die Antwort geben konnte. Und nicht irgendeine Frage. Sondern genau die Frage, die sie tief in ihrem inneren, gerade im Grenzbereich ihres bewussten Empfindens, bereits alle unterschwellig beschäftigte. Die eine, die noch niemand gewagt hatte auszusprechen. Von der man sicher gehen konnte, dass sie die Dinge in Bewegung setzen würde. Das richtige Maß zu wählen an Führung, an Verführung, in die richtige Richtung.
Er stellte sie in den Raum.
Nach außen hin ganz seiner Rolle des unschuldigen Fragestellers („Ich stell ja nur Fragen“) verpflichtet, konnte er sich im Innern ein Lächeln nicht verkneifen, während er an ihren Gesichtern ablas, welcher der Besucher der Versammlung in welcher Geschwindigkeit zu welcher Antwort gelangte.
War die Menge nur groß genug, konnte man fast sicher sein, dass irgendjemand dabei war, der Feuer fangen würde. Eine Frau in den Vierzigern aus der zweiten Reihe war die erste:
„Also das wird der Grund sein! Jetzt durchschaue ich das Ganze! Das wollen die!“
Verblüffung verwandelte sich zunehmend in Entrüstung, als die altbewährte Massenpsychologie innerhalb von wenigen Minuten auch noch die letzten gemäßigten Stimmen abwürgte.
„Wir müssen uns wehren! Bevor es zu spät ist!“
Der junge Mann, der ihm vor wenigen Minuten das Mikro gereicht hatte, stand fassungslos daneben. Es schien ihm einfach nicht zu gelingen, das gerade Geschehene zu verarbeiten.
Er reichte das Mikro lächelnd an den jungen Mann zurück, doch der schüttelte nur abwehrend den Kopf, immer noch nicht fassen könnend, was hier gerade passierte.
Willkommen in deiner schönen, neuen Welt, dachte er schelmisch.
Namen änderten sich, waren austauschbar, ebenso wie die Persönlichkeiten, die zündelten. Nur einen guten Nährboden brauchte man, damit es funktionierte. Ein bisschen furchteinflößende Krankheit, ein kleines bisschen unbestimmte Angst, ein Schuss Krieg, eine Prise Hoffnungslosigkeit. Die richtigen Fragen zur rechten Zeit. Fragen, die die Massen auf geeignete Antworten brachten, sie in Bewegung versetzten.
Und so begann es erneut.
Manche Dinge, so dachte der Teufel zufrieden, manche Dinge ändern sich einfach nie.