Es gibt auf der Erde allerlei sonderbare Lebensformen zu entdecken, aber kaum eine ist derart schwierig zu klassifizieren und zu durchschauen wie die Spezies des Geheimen Agenten. Ein Grund dafür könnte sein, dass sich die Exemplare dieser Art zumindest auf den ersten Blick nicht sehr zu ähneln, ja geradewegs völlig verschiedenen Gattungen angehören zu scheinen. Und doch ist es unserem Forscherteam in jahrelanger und oft mühevoller Arbeit nun gelungen, mehr Wissenswertes über diese so eigentümliche Spezies zu offenbaren.
Ihren Ursprung dürfte diese Gattung nicht – wie ursprünglich aufgrund der Ähnlichkeiten mit diversen kulturellen Gepflogenheiten in einigen der dortigen Länder angenommen – im asiatischen Raum haben. Stattdessen scheint es sich um eine in verschiedenen Erdteilen der Welt zu unterschiedlichen Zeiten spontan auftretende Mutation zu handeln, die aufgrund der jeweils verschiedenen Umweltbedingungen zu ebenso unterschiedlichen Anpassungsstrategien führte.
Immer wieder dürfte es zu einer derartigen Häufung jener Mutationen in bestimmten Regionen gekommen sein, dass sich die Umgebung offenbar gezwungen sah, sie zu integrieren. Die meisten jener Blütezeiten der Spezies des Geheimen Agenten sind jedoch rasch wieder vergangen und heute in Vergessenheit geraten. Nur vereinzelte lokale Hochburgen im asiatischen Raum scheinen aus noch ungeklärtem Grund zumindest zum Teil bis heute zu bestehen.
In den meisten Fällen jedoch wurde die ursprüngliche Mutation wo auch immer sie spontan auftrat entweder rasch ausgerottet oder lernte in den Untergrund zu gehen und sich als Vertreter einer anderen Spezies auszugeben. Dieser zweiten Strategie verdankt die Spezies des Geheimen Agenten auch ihren heutige gebräuchlichen Namen.
Oft kommt die Spezies der Geheimen Agenten nur innerhalb einer Generation deutlich als solche zur Blüte. Diese ist ein Naturschauspiel für sich in ihrer Farben- und Formenpracht, aber leider nur sehr selten zu beobachten, da der Geheime Agent in den meisten Fällen peinlichst genau darauf achtet, dass niemand diese ihm innewohnende wahre Pracht bemerkt. So entwickelt diese Spezies die in der Natur wohl einzigartige Fähigkeit, mehrere Arten von Blüten gleichzeitig auszubilden, und sie selektiv der Umwelt zu offenbaren.
Die prachtvolle Variante wird entweder gar nicht ausgebildet oder nur dann entfaltet, wenn es garantiert niemand mitbekommt. Unser Forscherteam brauchte Jahre, um sich unbemerkt genug an ein Exemplar des Geheimen Agenten anzupirschen, um dieses Naturschauspiel aufzeichnen zu können. Selbst nur in Gegenwart anderer Exemplare des Geheimen Agenten scheint sich beinahe so etwas wie eine „kulturelle Gepflogenheit“ entwickelt zu haben, die einem eigene Pracht nicht zur Schau zu stellen und stattdessen diejenige der anderen zu preisen. Anderen wird im Allgemeinen nur ein stark reduzierter, farbloser Abklatsch dessen präsentiert, was in einem noch verborgen sein könnte.
In jahrelanger archäologischer Kleinarbeit und mit Hilfe kontrollierter Langzeitstudien ist es dem Forscherteam gelungen, einen möglichen Grund für jenes sonderbare Verhalten – das sich fast als „Zurückhaltung“ bezeichnen lassen könnte – zu finden: Es scheint eine Art ererbte Überlebens-Strategie zu sein. Offenbar führt die spontane Mutation, die es dem Geheimen Agenten ermöglicht, derart farbenprächtige Blüten auszubilden, im gleichen Zug dazu, seine Wehrhaftigkeit gegenüber anderen Spezies deutlich zu beinträchtigen. Mit oft dramatischen Konsequenzen.
Historisch betrachtet scheint es vereinzelt Fälle gegeben zu haben, in der die Schutzfunktion eines Vertreters der Spezies Geheimer Agent versagt hat, und sie gewissermaßen „in aller Öffentlichkeit“ zur vollen Blüte gereift sind. In den meisten Fällen schien das nicht gut für jene Exemplare geendet zu haben – viele wurden angegriffen, vertrieben oder sogar getötet.
In manchen Gegenden wurde zu manchen Zeiten gar eine regelrechte Hexenjagd nach Geheimen Agenten veranstaltet, der die Gattung der Geheimen Agenten aufgrund der in ihr angelegten ausgeprägten Friedfertigkeit kaum gewachsen war. Und auch wenn so manches Exemplar überlebt zu haben scheint, vererbte sich wohl auch das von vornherein bereits ausgeprägte Gefühl der allgemeinen Bedrohung weiter auf die Folgegenerationen.
In anderen Fällen – jenen, in denen Geheime Agenten die Offenbarung ihrer in ihnen angelegten wahren Pracht auch langfristig überstanden – wurde nachträglich gerne abgestritten, dass es sich bei jenen Exemplaren ursprünglich überhaupt um Geheime Agenten gehandelt haben könnte. Stattdessen wurden sie in diesem Fall zu besonderen Exemplaren anderer Gattungen verklärt – wohl auch um den Mythos aufrechterhalten zu können, dass Exemplare der Gattung Geheimer Agent notwendigerweise entweder zu einem Leben im Schatten anderer verurteilt seien oder eine „Veröffentlichung“ ihrer inneren Anlagen auf Dauer nicht überleben würden.
Und so kommt es offenbar, dass Exemplare jener Spezies in vielen Fällen davon ausgehen, dass ihr Agententum im Grunde alternativlos für sie sein muss. Verschiedene Individuen des Geheimen Agenten haben ihre jeweils eigenen Strategien entwickelt, um mit dieser für sie so ausweglos scheinenden Situation umzugehen. Die meisten davon lassen sich als Strategie der „Zurückhaltung“ zusammenfassen, dicht gefolgt vom Strategien-Komplex diverser Varianten der Selbstaufopferung.
Es ist wirklich eine sehr eigentümliche Spezies, gewissermaßen eine Anomalie in unserem bekannten Kosmos. Man könnte beinahe sagen, dass sie aufgrund ihrer Anlagen von vornherein dazu verurteilt sei zu leiden und immer wieder aufs Neue zu scheitern. Aber ist sie das wirklich? Oder gibt es etwa gedeihlichere Umgebungen als andere für diese Spezies?
Unsere Forschungen weisen darauf hin, dass die Spezies der Geheimen Agenten wohl am besten dort gedeihen kann, wo ihr eine Art garantierter Frei-Raum gewährt wird. Eine Nische, die der Geheime Agent vollends ausfüllen kann, ohne sich ständig auf Grenzstreitigkeiten einzulassen, die er aufgrund seiner außerordentlichen Friedfertigkeit ohnehin meist verlieren wird. In solchen Nischen – so zeigen unsere Forschungen – reift er bisweilen zur vollen Blütenpracht.
Diese Nischen anzulegen, dazu bedarf es oftmals gar nicht viel Aufwandes. Es reicht in den meisten Fällen, einige wenige allgemeine Grenzen der Selbstausbreitung aufzuziehen und diese gut gegen Übertretungsversuche abzusichern. In anderen Worten: Zu verhindern, dass der individuelle Ausdruck einzelner den individuellen Ausdruck anderer verunmöglicht.
Wo dies gewährleistet ist – so scheint unsere Forschung zu bestätigen – trägt die Spezies des Geheimen Agenten mit der Ausbildung der farbenprächtigsten Blüten aus der Überfülle seines reichen Innenlebens zur allgemeinen Lebensfreude bei. Wird Dichter, Maler, Musiker, Tänzer, Prophet, bringt Farbe ins Leben aller.
Doch diese Nischen sind rar gesät, ihre Begrenzungen allzu oft nur Lippenbekenntnisse. Und so bleibt der Geheime Agent – und das was in ihm stecken würde – in den meisten Fällen aus Gründen der eigenen Sicherheit unerkannt, verborgen, ein Abklatsch dessen was er sein könnte. Bleibt diese Welt ein Abklatsch dessen, was sie sein könnte.
Schade eigentlich.